Sicher können Sie sich vorstellen, dass diese Eltern, wenn man sie gefragt hätte, alle verkündet hätten: „Ich weiß nicht, wie mein Kind auf so eine Idee kommt! Ich liebe es, egal, was geschieht!“ Nur dadurch, dass die Forscher die (inzwischen erwachsenen) Kinder direkt befragten, bekamen sie eine ganz andere – und sehr beunruhigende – Geschichte zu hören. Viele der Studenten hatten den Eindruck, regelmäßig weniger Zuneigung bekommen zu haben, wenn es ihnen nicht gelungen war, ihre Eltern zu beeindrucken, oder wenn sie ihnen nicht gehorcht hatten – und bei eben diesen Studenten waren die Beziehungen zu den Eltern oft angespannt.
Zum Beweis führten die Forscher eine zweite Studie durch, diesmal mit über hundert Müttern erwachsener Kinder. Auch bei dieser Generation erwies sich das Knüpfen von Liebe an Bedingungen als schädlich. Die Mütter, die als Kinder den Eindruck gehabt hatten, nur geliebt zu werden, wenn sie die Erwartungen ihrer Eltern erfüllten, fühlten sich nun als Erwachsene weniger wertvoll. Erstaunlicherweise jedoch neigten sie dazu, denselben Erziehungsstil zu verwenden, sobald sie Eltern wurden. Die Mütter knüpften bei ihren eigenen Kindern Zuneigung an Bedingungen, „obwohl diese Strategie negative Auswirkungen auf sie gehabt hatte“.10
Zwar ist dies (soweit ich weiß) die erste Studie, die zeigt, dass ein an Bedingungen geknüpfter Erziehungsstil an die eigenen Kinder weitergegeben werden kann, jedoch haben andere Psychologen ähnliche Belege für dessen Folgen gefunden. Manche davon werden im nächsten Kapitel diskutiert, in dem zwei bestimmte Arten, wie ein an Bedingungen geknüpfter Erziehungsansatz praktisch umgesetzt wird, geschildert werden. Doch auch in allgemeiner Hinsicht sind die Ergebnisse ziemlich erdrückend. So hat etwa eine Gruppe von Forschern an der Universität Denver gezeigt, dass es bei Teenagern, die das Gefühl haben, bestimmte Bedingungen erfüllen zu müssen, um die Anerkennung ihrer Eltern zu gewinnen, passieren kann, dass sie sich schließlich selbst nicht mehr mögen. Das wiederum kann einen Heranwachsenden dazu bewegen, ein „falsches Selbst“ zu konstruieren – mit anderen Worten, vorzugeben, er sei die Art von Mensch, den seine Eltern lieben werden. Diese verzweifelte Strategie, Anerkennung zu gewinnen, ist oft verbunden mit Depression, einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit und einer Tendenz, das Gefühl für das eigene wahre Selbst zu verlieren. Irgendwann wissen solche Teenager vielleicht gar nicht mehr, wer sie wirklich sind, weil sie sich solche Mühe geben mussten, etwas zu sein, was sie nicht sind.11
Über Jahre hinweg haben Forscher festgestellt, dass „je mehr die Unterstützung (die man bekommt) an Bedingungen geknüpft ist, umso geringer das allgemeine Selbstwertgefühl“ ist. Wenn Kinder Zuneigung nur unter bestimmten Bedingungen erleben, neigen sie dazu, auch sich selbst nur unter bestimmten Bedingungen zu akzeptieren. Im Gegensatz dazu tendieren diejenigen, die den Eindruck haben, bedingungslos angenommen zu werden – von ihren Eltern oder einer anderen Studie zufolge sogar von einem Lehrer –, dazu, ein besseres Selbstwertgefühl zu haben,12 genau wie Carl Rogers es vorhersagte.
Und das führt uns zum eigentlichen Zweck dieses Buches, der zentralen Frage, über die Sie vielleicht einmal nachdenken können. In den Fragebögen, die verwendet werden, um den an Bedingungen geknüpften Erziehungsansatz zu untersuchen, werden Teenager oder Erwachsene meist gebeten, anzugeben, ob sie Sätzen wie den folgenden „stark zustimmen“, „zustimmen“, „neutral gegenüberstehen“, „nicht zustimmen“ oder „überhaupt nicht zustimmen“: „Meine Mutter bewahrte selbst bei unseren schlimmsten Konflikten ein Gefühl liebevoller Verbundenheit zu mir“ oder „Wenn mein Vater anderer Meinung ist als ich, weiß ich, dass er mich trotzdem liebt.“13 Wie würden Sie sich wünschen, dass Ihre Kinder eine derartige Frage in fünf oder zehn oder fünfzehn Jahren beantworten würden – und was glauben Sie, wie sie sie beantworten werden?
2 | Liebe schenken und Liebe entziehen |
Als Wissenschaftler in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts anfingen, Erziehungsmethoden zu untersuchen, neigten sie dazu, das, was Eltern mit ihren Kindern taten, danach zu klassifizieren, ob es auf Macht oder auf Liebe beruhte. Auf Macht beruhende Erziehungsmethoden umfassten Schlagen, Schreien und Drohen. Auf Liebe beruhende Erziehungsmethoden umfassten so ziemlich alles andere. Die Forschungsergebnisse zeigten schnell, dass Macht zu schlechteren Ergebnissen führte als Liebe.
Leider wurden unter dieser zweiten Rubrik sehr viele verschiedene Strategien in einen Topf geworfen. Manche bestanden daraus, vernünftig mit Kindern zu reden und ihnen etwas zu erklären, ihnen Wärme und Verständnis entgegenzubringen. Andere Methoden jedoch waren viel weniger liebevoll. Ja, manche von ihnen liefen darauf hinaus, durch Liebe Kontrolle über Kinder auszuüben, entweder indem ihnen Liebe entzogen wurde, wenn sie sich schlecht benahmen, oder indem man sie mit Aufmerksamkeit und Zuneigung überhäufte, wenn sie sich gut benahmen. Dies sind die beiden Gesichter des an Bedingungen geknüpften Erziehungsansatzes: „Liebesentzug“ (Peitsche) und „positive Verstärkung“ (Zuckerbrot). In diesem Kapitel möchte ich untersuchen, wie diese beiden Methoden in der Praxis aussehen, welche Folgen sie haben und welche Gründe es für diese Folgen gibt. Später werde ich das Konzept der Bestrafung noch genauer betrachten.
Auszeit von der Liebe
Wie alles andere kann Liebesentzug auf verschiedene Weise und in unterschiedlichen Intensitätsgraden eingesetzt werden. An einem Ende der Skala kann ein Elternteil als Reaktion auf etwas, was das Kind getan hat, ein ganz klein wenig zurückweichen, kühler und weniger herzlich werden – vielleicht ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Am anderen Ende der Skala kann eine Mutter oder ein Vater ganz direkt verkünden: „Ich hab dich nicht lieb, wenn du dich so benimmst“ oder: „Wenn du so etwas tust, will ich überhaupt nicht in deiner Nähe sein.“
Manche Eltern entziehen ihre Liebe einfach dadurch, dass sie sich weigern, auf ihr Kind zu reagieren – das heißt, indem sie es absichtlich ignorieren. Vielleicht sprechen sie es nicht aus, doch die Botschaft, die sie senden, ist ziemlich klar: „Wenn du etwas tust, was mir nicht gefällt, schenke ich dir keine Aufmerksamkeit. Ich tue so, als wärst du gar nicht hier. Wenn du willst, dass ich dich wieder zur Kenntnis nehme, solltest du mir lieber gehorchen.“
Wieder andere Eltern trennen sich räumlich von ihrem Kind. Dies kann man auf zweierlei Art tun. Die Mutter oder der Vater kann entweder selbst weggehen (woraufhin das Kind möglicherweise schluchzt oder in Panik schreit: „Mama, komm zurück! Komm zurück!“) oder das Kind in sein Zimmer oder an einen anderen Ort verbannen, wo der Elternteil nicht ist. Diese Taktik könnte man zutreffend als erzwungene Isolierung bezeichnen. Doch dieser Ausdruck wäre vielen Eltern unangenehm, daher wird meist eine harmlosere Bezeichnung verwendet, die uns ermöglicht, das, was wirklich dabei geschieht, nicht beim Namen nennen zu müssen. Der verbreitete Euphemismus lautet, wie Sie vielleicht schon erraten haben, Auszeit.
In Wirklichkeit ist diese sehr beliebte Erziehungsmethode eine Form von Liebesentzug – zumindest dann, wenn Kinder gegen ihren Willen fortgeschickt werden. Nichts ist verkehrt daran, einem Kind die Möglichkeit zu geben, in sein Zimmer oder an einen anderen angenehmen Ort zu gehen, wenn es wütend oder aufgeregt ist. Wenn sich das Kind selbst entschieden hat, etwas Zeit alleine zu verbringen, und wenn es alle Aspekte (wann es gehen kann, wohin es gehen kann, was es tun kann und wann es wieder zurückkommen kann) selbst bestimmen kann, wird dies nicht als Verbannung oder Strafe erlebt und ist oft hilfreich. Darum geht es mir hier jedoch nicht. Ich meine „Auszeit“ in dem Sinne, wie der Begriff gewöhnlich verwendet wird, als Urteil, das von der Mutter oder dem Vater verhängt wird: Einzelhaft.
Einen Hinweis zum Wesen dieser Methode liefert der Ursprung des Begriffs. Auszeit im pädagogischen Sinne ist dem Ausdruck Auszeit von positiver Verstärkung entnommen. Diese Methode wurde vor fast einem halben Jahrhundert zum Trainieren von Versuchstieren entwickelt. B. F. Skinner und seine Schüler bemühten sich beispielsweise, Tauben beizubringen, als Reaktion auf blinkende Lichter auf bestimmte Tasten zu drücken, und zu diesem Zweck experimentierten sie mit verschiedenen Systemen, Futter als Belohnung für das anzubieten, was die Forscher wollten. Manchmal probierten sie auch aus, die Vögel zu bestrafen, indem ihnen das Futter