Die industrielle Revolution setzt in Luzern spät ein. 1860 sind nur 1,7% der Bevölkerung in der Heim- oder Fabrikindustrie tätig, das sind viermal weniger als in der übrigen Schweiz. Luzern ist – und bleibt bis heute – ein überdurchschnittlich von der Landwirtschaft geprägter Kanton; 1910 gehörten immer noch rund 40% der Erwerbstätigen dem Bauernstand an, und noch heute ist dessen Anteil mit über 6 % rund doppelt so hoch wie in der Schweiz insgesamt.
Dabei fehlte es eigentlich nicht an günstigen Voraussetzungen für die Industrialisierung. Reuss, Emme und andere Flüsse sind als Energieträger geeignete Wasserläufe, dazu war in den wiederholt von Agrarkrisen und starker Abwanderung betroffenen Landgebieten ein Arbeitskräftepotenzial vorhanden, und für einzelne Zweige wie die Stroh-, Leinen-, Bau- und Nahrungsmittelindustrie mangelte es auch nicht an Rohstoffen. In der Stadt hatte es die Industrie wegen der engen Raumverhältnisse allerdings schwer; und vor allem waren weder das zwar kapitalkräftige Patriziat noch das auf Kleinbetriebe ausgerichtete Handwerkertum geneigt, als Industriepioniere aufzutreten. Dennoch zog die Stadt etliche Industrien an, die sich aber vor ihren Toren – in den Gemeinden Kriens, Littau und Emmen – ansiedelten. Aus einigen, etwa den 1842 entstandenen von Moos’schen Eisenwerken, der Maschinenfabrik Bell in Kriens (1844) oder der Papierfabrik Perlen (1872) wurden bedeutende Unternehmen; andere, wie die 1874 gegründete heutige Aufzügefabrik Schindler, entwickelten sich gar zu weltbekannten Firmen.
Überblick
1798: | Ende der Patrizierherrschaft. Helvetische Verfassung mit zentralistischem Staatsaufbau und Einführung u.a. der Glaubens-, Niederlassungs- und Wirtschaftsfreiheit. |
1798/99: | Luzern ist vom Oktober 1798 bis Mai 1799 Sitz der helvetischen Regierung. |
1814: | Durch einen Staatsstreich aristokratischer Kreise teilweise Rückkehr zu den Zuständen vor 1798: Sogenannte Restauration. Erneute Dominanz der Stadt über die Landschaft. Luzern wird – abwechselnd mit Zürich und Bern – alle 4 Jahre eidgenössischer Vorort. |
1826: | Erstmals reformierte Gottesdienste in Luzern. |
1831: | Liberale Regenerationsbewegung. Zögernder Beginn der Industrialisierung. |
1835: | Mit dem «Schwanen» (Nr. 56) Bau des ersten Hotels am See. |
1837: | Erstes Dampfschiff auf dem Vierwaldstättersee. |
1841: | Konservative Verfassung: Demokratisch-ländliche Bewegung gegen die Dominanz der Stadt. |
1844: | Rückkehr der Jesuiten nach Luzern. |
1844/45: | Gescheiterte liberale Freischarenzüge mit dem Ziel, das konservative Regime Luzerns zu stürzen. |
1845: | Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Freiburg und Wallis gründen den Sonderbund zur Wahrung ihrer autonomen Stellung im Bund. |
1847: | 4,-28. November: Sonderbundskrieg. Luzern kapituliert mit den andern Sonderbundskantonen vor den eidgenössischen Truppen. |
1848: | Gründung des schweizerischen Bundesstaates mit Hauptstadt Bern. Liberale Dominanz in Luzern. Ausweisung der Jesuiten und Aufhebung einiger Klöster. |
Ab ca. 1850: | Entfestigung der Luzerner Altstadt; Schleifung zahlreicher Türme u.Tore. |
1856: | Eröffnung der Bahnstrecke Basel-Emmenbrücke; 1859 Weiterführung bis Luzern. |
Ab 1864: | Bebauungspläne für neue Wachstumszonen im Bruch-, Wey- und Obergrund-Quartier. |
1866–72: | Richard Wagner in Tribschen. |
1871: | Konservativer Umschwung im Kanton; die Stadt bleibt aber liberal. |
1875: | Demokratische Verfassung, die bis 2007 in Kraft bleibt. |
1882: | Eröffnung der Gotthardbahn, die aber Luzern bis 1897 umfährt. |
1889: | Eröffnung der Brünig- und der Pilatusbahn. |
1894/95: | Neubau des Bahnhofs; die jetzt von der Bahn befreite Pilatusstrasse und das Hirschmattquartier werden neue Bauzonen. |
Vielleicht muss man in Luzern eher von einer technischen als von der industriellen Revolution reden. Was die Stadt nämlich seit 1830 von Grund auf umzugestalten beginnt, sind technische Errungenschaften, in erster Linie natürlich die neuen Verkehrsmittel. Als am 24. September 1837 mit der «Stadt Luzern» das erste Dampfschiff zu seiner Eröffnungsfahrt ausläuft, beginnt ein neues Zeitalter. Der Dampfer vermag bedeutend mehr Menschen und Güter aufzunehmen als die alten Nauen, und legt den Weg nach Flüelen in 3 statt in 9 Stunden zurück. Ab 1856 folgen die Bahnen: zuerst jene nach Olten und Basel, 1864 jene nach Zug und Zürich, und 1897 endlich auch der Anschluss an die bereits 1882 erbaute Gotthardbahn. Diese Verbindungen hinaus in die Welt machen nun innerhalb etwa eines halben Jahrhunderts aus der in ihren Mauern schlummernden regionalen Hauptstadt ein europäisches Tourismuszentrum. Von 1850 bis 1913 vervierfacht sich die Zahl ihrer Bevölkerung und ihre Siedlungsfläche. Die Bebauung folgt zunächst fingerförmig den alten Ausfallstrassen Obergrund, Untergrund und Zürichstrasse.
Übersichtsplan der Stadt Luzern von 1890. Die Stadt wächst mit Hotels am rechten Seeufer und mit Häusern entlang der drei Ausfallachsen. Die Eisenbahn wird durch die Pilatusstrasse geführt und schnürt die Stadt als «eiserner Gürtel» ein.
Zwischen 1866 und 1873 entstehen die rasterförmigen Bebauungspläne für die neuen Wachstumszonen in den Quartieren Bruch, Obergrund, Wey und um den Bahnhof. Die Stadtbevölkerung wächst viel schneller als jene auf dem Land. Das rasante Wachstum ist aber nur dank weiterer technischer Neuerungen möglich. So macht erst die neue Wasserversorgung von 1875 mit Druckleitungen vom Reservoir beim Gütsch die dichte Bebauung der umliegenden Hügel überhaupt möglich. Weil die innerstädtischen Distanzen wachsen, wird 1899 die Trambahn eingeführt. Von 1858 an gibt es eine öffentliche Gasbeleuchtung, und die elektrische Beleuchtung kommt 1891, zuerst natürlich dort, wo sich Luzern besonders vorteilhaft präsentieren muss: am Schweizerhofquai (Nr. 59). 1852 wird die erste Telegrafen- und 1883 die erste Telefonstation eröffnet.
Die revolutionäre Umgestaltung des Stadtbildes ist weitgehend eine Folge dieser technischen Neuerungen. Sie bewirkt eine Art Dreiteilung Luzerns: In der Grossstadt wie in der Kleinstadt lebt das in sich gekehrte «Storchennest» aus dem Mittelalter weiter, während die bis dahin unverbauten Seeufer dem Tourismus dienstbar gemacht werden: das rechte mit seinen Hotels und Uferpromenaden als Aussichtsterrasse, das linke mit dem Bahnhof auf der ehemaligen Fröschenburg als «Lieferanteneingang». Aber auch das Storchennest der Altstadt erfährt starke Eingriffe. In einigen Randgebieten wird die Anzahl der Stockwerke erhöht, so am Grendel, der 1819–1822 eingedeckt und ab 1860 mit seinen Wohn- und Geschäftshäusern zum Scharnier zwischen Hotelmeile und Altstadt wird. Vor allem aber spielt sich im Jahrzehnt nach 1855 jener städtebauliche Prozess der Entfestigung ab, dem insgesamt an die zwanzig Tore und Türme sowie Teile der Stadtmauern, die Sust und die Hofbrücke zum Opfer fallen. Dieser Vorgang, über den man heute den Kopf schütteln mag, erregt damals zunächst kein Bedauern. Viele, die in der Altstadt wohnen, fordern die Beseitigung der dunklen und feuchten Enge und freuen sich über die neuen hellen Plätze. Manche sehen in diesem Zerstörungswerk auch eine demokratische Tat, da die vor allem als Gefängnisse dienenden Türme als Symbole der alten Aristokratenherrschaft gelten. Eine Änderung tritt erst ein, als 1864 wegen ihres schlechten baulichen Zustands auch die Schleifung der Museggmauer (Nr. 38) erwogen wird. Da sie kaum