Wenn Kindern nichts zugetraut wird
Ein anderer weit verbreiteter Erziehungsfehler ist, dass wir unseren Kindern zu wenig oder gar nichts zutrauen. Dieser Mangel an Vertrauen bringt unsere Kinder dazu, mehr auf äußere Signale zu achten als auf innere. Sehen wir uns zu dieser Problematik einige Beispiele an und wie sich solche Fehler beheben lassen.
Repression
Oft wird Kindern von Geburt an unterschwellig Untauglichkeit signalisiert. Sie werden für unterlegen und hilflos gehalten, so dass sie zu dem Schluss kommen, Eltern und andere Autoritätspersonen seien dazu da, ihre Mängel auszugleichen. Schreit ein Baby, nehmen wir es etwa in den Arm, wiegen es und sagen: „Pst! nicht weinen“. Obwohl das gut gemeint ist, beschneiden wir damit seinen Ausdruckswillen, in einer Entwicklungsphase, in der Schreien das einzige ihm zur Verfügung stehende Mittel ist, sich auszudrücken, es sei denn, man will vollgeschissene Windeln mit zählen.
Und der subtile Unterdrückungsmechanismus setzt sich fort. Trotz aller Missbilligung und Versagensunterstellung bleiben unsere Kinder erstaunlich selbstbewusst, bis sie sieben oder acht Jahre alt sind. Noch gibt es für sie nichts außerhalb ihrer Reichweite und nichts, was sie nicht verdienten. Ein großes Feuer ist schließlich nicht so schnell gelöscht!
Manchmal halten wir diese kindliche Wesensart für Egoismus. Wobei schon einige die Vorstellung abschreckt, so sehr wird in unserer Gesellschaft der Egoismus als Untugend angesehen. Oft befürchten wir, unsere Kinder könnten durch ihre Ichbezogenheit scheitern. Wir haben Angst, dass ihre Selbstbestimmung sie weniger umgänglich macht und sie dadurch keine nützlichen Mitglieder der Gesellschaft werden. Mir macht allein die Vorstellung, meine Kinder könnten in der Öffentlichkeit einmal völlig aus dem Rahmen fallen, eine Gänsehaut. Gott behüte, dass andere von mir denken könnten, ich würde meine Kinder „verderben“ oder ich wäre eine schlechte Zuchtmeisterin, weil dann alle Welt sähe, was für eine schlechte Mutter ich bin. Und wie beschwichtigen wir solche Ängste? Leider vermitteln wir unseren Kindern gewöhnlich den Eindruck, dass ihre Direktheit und ihr Erkundungsdrang falsch – ja sogar egoistisch und verwegen seien. So klopfen wir beispielsweise unseren Kindern rasch auf die Finger, wenn sie staunend nach einer Kerzenflamme greifen, statt sie unter Aufsicht selbst herausfinden zu lassen, dass die Flamme heiß ist und sie sich daran verbrennen können. Kinder sollten eigene Erfahrungen sammeln dürfen und nicht nur auf den Erfahrungen anderer aufbauen müssen.
Hierzu fällt mir ein Artikel ein, über einen afrikanischen Stamm, bei dem Kinder sehr frei erzogen werden. Wenn die Frauen Wäsche waschen, dürfen die Kleinsten mit am Ufer plantschen. Die Kinder dürfen ohne weiteres mit so gefährlichen Gegenständen wie Macheten hantieren, die wir unsere Kinder kaum anschauen und geschweige denn anfassen ließen! Interessanterweise kommt es dabei zu erstaunlich wenig Unfällen, etwa dass ein Kind ertrinkt. Wahrscheinlich liegt es an unserer Schwarzseherei. Wenn wir überall nur Gefahren sehen, statt unsere Kindern praktisch aufzuklären, wird auch oft etwas passieren. Durch das Phänomen der selbsterfüllenden Prophezeiungen werden oft die schlimmsten Alpträume wahr.
Mit unseren Befürchtungen halten wir also nicht selten unsere Kinder schon von klein auf vom eigenen Denken und Tun ab. Sie werden von elterlicher oder anderweitiger Autorität abhängig, da sie irgendwann aufhören, selbst nach Antworten zu suchen. Andererseits können sie schon bald die leisesten Anzeichen der Zustimmung und Ablehnung lesen, um möglichst gefällig zu reagieren.
Elterliche Gewalt und Vorherrschaft
Man hat Eltern Jahrhunderte lang weisgemacht, die mit Abstand beste Form der Erziehung sei die autoritäre. Doch wir machen einen Fehler, wenn wir aus unseren Kindern partout, und sei es mit Gewalt, gute Erwachsene machen wollen, statt sie zu eigenen Entscheidungen zu ermutigen. Wir setzen mit unseren autoritären Vorschriften fort, worunter auch wir zu leiden hatten: die Fremdbestimmung.
Kindern wird gesellschaftskonformes Denken und Verhalten aus zweierlei Gründen anerzogen. Erstens will man sie vor Spott, Kritik und Außenseitertum bewahren. Man möchte seine Kinder glücklich und erfolgreich in der Gesellschaft integriert sehen. Zweitens benützen manche Eltern ihre Kinder dazu, eigene Defizite auszugleichen. Sie wollen mit ihren Kindern vor allem angeben. So kommt es, dass Eltern ihre Kinder unbewusst zur Entwicklung eines falschen Selbst ermutigen. Auch wenn ein solches äußeres Selbst den gesellschaftlichen Erwartungen gerecht wird, die Kinder selbst macht es unglücklich. Und es verwirrt sie. Fragen wir uns also, wie sich solche erzieherischen Angewohnheiten überwinden lassen. Es gibt drei Seiten elterlicher Gängelung:
„Sei nicht so garstig!“
„Überlass das Denken mir“ [auch bekannt als „Vater (Mutter) weiß es am besten“].
„Ich weiß, was am besten für dich ist.“
„Sei nicht so garstig!“
Wahrscheinlich die raffinierteste Art der Bevormundung, weil Kinder oft keine Gängelung darin sehen. Sie arbeitet mit versteckten Formen der Schuld, der Aufopferung und der Schande. Und sie lockt mit bedingter Anerkennung und Zuneigung. Heidi, 15, sagt: „Mein Vater möchte, dass ich lauter Einsen schreibe. Bei einer Zwei fühle ich mich schon unglaublich schlecht. In der sechsten Klasse hatte ich einmal eine Fünf und er behandelte mich wie die letzte Idiotin.“ Die folgenden Bemerkungen illustrieren das sehr gut:
„Wenn du mich wirklich gern hättest, mein Schatz, würdest du dich in der Schule mehr anstrengen.“ (Schuld)
„Also gut. Ich werde dir dein Pausenbrot für morgen machen. Ich bin ja überhaupt diejenige, die ständig alles macht. Zu Diensten, der Herr.“ (Aufopferung)
„Was heißt, du hast deine Chemieschulaufgabe versaut? Verdammt noch mal, deine Eltern sind Chemiker! Was für eine Schande für die Familie!“ (Schande)
Das mögen drastische Beispiele sein, doch wenn wir einmal genauer hinhören, was wir zu unseren Kindern sagen, werden wir durchaus ähnliche Strukturen erkennen:
„Kannst du wirklich nicht ein bisschen früher aufstehen? Jedes Mal habe ich den Stress mit dem Berufsverkehr, wenn du den Bus versäumst. Das verdirbt mir den ganzen Tag.“ (Schuld)
„Möglicherweise kündigen sie mir jetzt, aber das ist mir egal. Bevor ich eine schlechte Mutter bin und alle deine Softballturniere versäume, lasse ich es lieber darauf ankommen.“ (Aufopferung)
„Du hast eine Drei im Diktat? Mensch, das ist bisher deine schlechteste Note. Waren die anderen alle besser als du?“ (Schande)
Selbst in diesen relativ milden Fällen wird das Selbstbewusstsein des Kindes unterhöhlt. Eine der gebräuchlichsten Bemerkungen, die ein Gefühl der Schuld oder der Scham hervorrufen, ist: „Ich bin so enttäuscht von dir“. Sie scheint so harmlos zu sein. Wir alle machen sie. Doch sie motiviert unsere Kinder mehr zur Anpassung als zur Selbständigkeit. Wir sollten daher sehr darauf achten, was wir sagen, und uns jedes Mal fragen: „Motiviere ich zur Anpassung oder zur Selbständigkeit, wenn ich das jetzt sage?“
„Überlass das Denken mir“ (oder „Vater [bzw. Mutter] weiß es am besten“)
Es ist ein alter Fehler, wenn Eltern für ihre Kinder denken und ihnen auf diese Art vorschreiben, wie sie zu fühlen und sich zu verhalten haben. Dazu einige Kommentare von Kindern:
„Meine Eltern weisen immer auf meine Schwächen hin.“
„Sie mischen sich ständig in alles ein. Das macht mich wahnsinnig. Wenn sie mich nur mehr selber machen ließen. Mensch, ich kann das auf meine Weise, ohne alles durcheinander zu bringen, so wie sie das befürchten.“
„O Gott, manchmal fühle ich mich wie unter einem Mikroskop. Ich gehe dann in mein Zimmer hoch und mache die Tür hinter mir zu, um meine Ruhe zu haben.“
„Meine Mutter und mein Vater behandeln mich manchmal so, als hätte ich keinen Verstand. Vielleicht denken sie, ich könne ihn