Andererseits erinnere ich mich an einen Patienten mit einer wunderbaren Frau und sechs Kindern, die in einem alten Wohnwagen von der Hand in den Mund lebten. Er war ungelernter Arbeiter in einer Firma, die Bohrtürme herstellte. Alles drehte sich bei ihm um das Wohl der Familie und nicht um sein Image oder darum, es nur möglichst bald besser zu haben. Was für einen Schwung die Familie mitbrachte, wenn sie in meine Praxis kam, und wie aufrichtig sie sich freuen konnten! Unter ihnen herrschte ein Zusammenhalt und eine Liebe, die sich von keinen Äußerlichkeiten blenden ließ. Ihnen waren Guess Jeans, Sketchers Boots oder andere Markenkulte egal. Den Eltern war es recht, dass die Kinder die öffentliche Schule besuchten, da sie ihre erzieherische Verantwortung ernst nahmen, sich auch in der Schule engagierten und darauf achteten, dass die Hausaufgaben gemacht wurden. Und der Weiher hinter dem Wohnwagen hatte den Kindern mehr an Spaß zu bieten als es eine Yacht mit einem Motor von eineinhalb Meter Durchmesser auf dem Lake Travis gekonnt hätte. Dieser Mann war glücklich, weil er nach vernünftigen Grundsätzen handelte. Er orientierte sich an Werten, die er selbst eingesehen hatte, statt blind den Anforderungen einer Außenwelt zu genügen, die keinerlei Rücksicht auf seine innere Befindlichkeit nahm.
Obwohl ich diese Beobachtungen interessant fand, dauerte es noch eine ganze Weile, bis ich sie im Zusammenhang mit den Problemen unserer Zeit sah. Ich konnte nur fassungslos den Kopf schütteln, wenn mir bei meiner morgendlichen Zeitungslektüre Horrornachrichten begegneten, dass Kinder ihre Eltern oder Geschwister umbrachten, Gangmitglieder Mordlisten führten, Mütter ihre Kinder im Keller anketteten und in ihren eigenen Exkrementen wälzen ließen. Mir war die Verrohung und Depersonalisierung hinter diesen Taten ein Rätsel, dass man so leichtfertig das Leben anderer aufs Spiel setzen konnte, an dem mir als Ärztin so sehr gelegen war.
Eines Tages las ich dann eine Nachricht, die entschieden zu viel war. Eine junge Mutter hatte ihren zweijährigen Sohn wegen eines trivialen Ärgernisses umgebracht, in Stücke geschnitten, in einer Kasserolle gebraten und an ihre Hunde verfüttert. In diesem Augenblick stand für mich fest, dass ich etwas gegen diesen Wahnsinn unternehmen würde. Ich wollte für eine Welt aktiv werden, der ich so viel verdankte und in der meine Kinder leben müssten.
Ich begann mich mit Pädagogik auseinander zu setzen und betrieb Feldstudien. Ich interviewte Hunderte von Lehrern, Eltern und Kindern in Texas und Kalifornien, und selbst im fernen Norwegen. Die meisten Kinder wurden während der Mittagszeit oder während der Pause befragt, mit Erlaubnis der Eltern und Schulleiter. Andere wurden telefonisch interviewt. Und in diesem Buch wird auf dieses Material immer wieder zurückgegriffen werden.
Ich begann, mich für die großen Zusammenhänge der gesellschaftlichen Missstände zu interessieren. Denn mir war bei den Gesprächen aufgefallen, dass man die sozialen Probleme gewöhnlich oberflächlich zu lösen versuchte, statt sie bei der Wurzel zu packen. Es wurden bestenfalls Symptome gelindert, aber keine Krankheiten geheilt. Zum Beispiel stecken wir in die Gangbekämpfung, in Sozialreformen und in Aufklärungskampagnen gegen Drogen- und Alkholkonsum jede Menge Geld. Wir ziehen gegen Drogenhändler und Kriminelle zu Felde. Und all das geschieht, ohne dass wir uns jemals die eine entscheidende Frage stellen – Warum haben wir überhaupt all diese Probleme?
Meine Antwort: wir haben diese Probleme, weil wir unsere Kinder mehr zur Anpassung erziehen als zur Eigenverantwortung. In anderen Worten, wir bringen ihnen bei, sich im Leben mehr um das Lob und die Anerkennung anderer zu bemühen, statt um das eigene Nachdenken. Das ist die große Gefahrenquelle, dass wir den eigenen Verstand verraten, der uns vor allen anderen Lebewesen auszeichnet.
Selbstbewusste Kinder hingegen entwickeln einen scharfen Verstand, mit dem sie sich einen Weg durch den Dschungel äußerer Einflüsse bahnen: sie durchdenken alle möglichen Konsequenzen ihres Tuns, verlassen sich auf ihre innere Kontrollinstanz. Selbstbewusste Kinder tun das, was sie für richtig halten, und nicht das, was ihnen größeres Ansehen brächte. Es ist dieses selbständige Nachdenken, dieser innere Dialog, der verantwortliches Handeln auszeichnet. Und wir sollten unsere Kinder so früh wie möglich zu dieser Eigenverantwortung erziehen.
Die fünf Wesensmerkmale selbstbewusster Kinder
Wenn Kinder in den inneren Dialog treten und eigenständig zu handeln anfangen, bilden sich zwei Charakterzüge heraus: ein starkes Selbstbewusstsein und ein großes Bedürfnis, sich innerhalb der Gemeinschaft nützlich zu machen. Aus diesen beiden Wesenszügen entspringen fünf Eigenschaften, die sie als selbstbestimmte Wesen auszeichnen.
1. Selbstachtung/gesundes Selbstvertrauen
Selbstbewusste Kinder haben ein Selbstvertrauen entwickelt, das sie dazulernen und persönlich wachsen lässt. Der Verstand ist in der Tat ein unvoreingenommener und nicht nachtragender Richter. Er versetzt die Kinder in die Lage, Niederlagen zu verkraften, aus Fehlern zu lernen und zu eigenen Schwächen zu stehen, ohne dadurch an Selbstwertgefühl einzubüßen. Weil solche Kinder nicht bloß auf äußere Einflüsse reagieren, verhalten sie sich weniger defensiv. Sie nehmen die Dinge nicht gleich persönlich. Kinder finden nur in einer Atmosphäre bedingungsloser Liebe und Anerkennung zu dieser Einstellung.
2. Tüchtigkeit
Selbstbewusste Kinder können ihre Umwelt begreifen und sie beeinflussen. Da sie Fehler nicht als etwas erleben, das ihnen ihr Selbstwertgefühl raubt, sind sie unternehmungslustig und erkunden ihre intellektuellen und körperlichen Grenzen. Sie sind kompetent. Auch wenn ihnen manches misslingt, haben diese Kinder im Lauf der Jahre einiges vorzuweisen, was Erfolge und Fertigkeiten betrifft. Sie werden immer selbstsicherer. Ihr Selbstwertgefühl und Kompetenzempfinden wächst. Selbstbewusste Kinder werden in Umgebungen groß, in der sie zur Entwicklung ihrer Fähigkeiten und zu neuen Unternehmungen ermutigt werden, ohne eine Versagensangst eingeimpft zu bekommen. Sie erfahren, dass sie sich weder lächerlich machen, noch sich schämen müssen, noch Kritik zu fürchten brauchen, wenn einmal etwas daneben geht. Doch ihnen werden nicht die Konsequenzen ihrer Fehler erspart.
3. Selbständigkeit
Selbstbewusste Kinder entfalten durch ihre Tüchtigkeit ein Gefühl der Selbständigkeit – das heißt die Fähigkeit, zu eigenen Entscheidungen zu stehen. Ihr Nachdenken macht sie zu unabhängigen Problemlösern. Sie lassen sich bei ihren Entscheidungen nicht so leicht von äußeren Einflüssen leiten. Unverständige und abhängige Menschen zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie sich kaum äußeren Einflüssen widersetzen können.
4. Zivilcourage
Da selbstbewusste Kinder sachlich denken können – und sich nicht nur an den Erwartungen anderer orientieren – tendieren sie mehr dazu, mehr im Eigeninteresse zu handeln, statt rücksichtslos Interessen zu verfolgen. Moralisch ausgedrückt, selbstbestimmte Menschen bemühen sich darum, das grundsätzlich Richtige zu tun. Wenn zum Beispiel Timmy auf dem Pausenhof einen Briefumschlag findet, in dem sich das Mittagessensgeld eines Mitschülers befindet, wird ihm seine innere Stimme sagen, dass er sich schlecht fühlen wird, wenn er es behält, weil der den rechtmäßigen Besitzer damit in Schwierigkeiten bringt. Oder nehmen wir an, Kristina sieht, wie ihre beste Freundin von einigen modebewussten Mitschülerinnen wegen ihrer altmodischen Kleidung gemobbt wird. Wird sie ihr beistehen und dabei riskieren, dass auch sie von der Gruppe