5. Sie tun sich in der Gruppe hervor
Der Mensch ist ein Herdentier, das heißt, wir alle haben das Bedürfnis nach einem sinnvollen Platz in der Gruppe und richten unser Denken und Tun danach aus. Manche Kinder tun und glauben alles, was die Gruppe vorschreibt, nur um dazu zu gehören. Sie stellen damit ihre Anpassung über das Bedürfnis, etwas Eigenes zur Gruppe beizutragen. Wenn Kinder vor allem auf Anerkennung aus sind, sind sie außengesteuert. Weil sie von ihrer Umgebung dazu veranlasst wurden, haben sie ihre eigene Identität mehr oder weniger aufgegeben und durch ein von außen bestimmtes Selbstbild ersetzt. Die bedingende Erziehungsform scheint den Vorteil zu haben und wird deswegen wohl auch angewendet, dass sich so mit Kindern offensichtlich leichter fertig werden lässt, - solange wir diejenigen sind, deren Wünschen sie sich anpassen. Es ist so bequem, wenn sie sich wunschgemäß verhalten. Leider gilt es dann für andere äußere Einflüsse ebenso, denen sie unvermeidlich ausgesetzt sein werden – Altersgenossen und Medien zum Beispiel – und schon ist die Pandorabüchse der Erziehungsalpträume geöffnet.
Dann gibt es Kinder, die durch eigenständige Beiträge ihren Platz in einer Gruppe finden wollen – und zwar mehr, weil sie die Gruppe gut finden, und weniger, weil die Gruppe sie ausgewählt hat. Sie sind eher geneigt, sich Anerkennung in der Gruppe zu verdienen als zu erzwingen. Solche Kinder sind selbstbewusst. Und da sie die Gruppe nicht unbedingt als Ideengeber brauchen und ihre Umgebung als weniger bedrohlich erleben, können sie sich innerhalb der Gruppe sinnvoll hervortun. Sie müssen nicht blind gehorchen, und jedes hüh und hott mitmachen. Durch ihre vielen Fertigkeiten können sie sich geschickt einbringen und Wertvolles für die Gruppe leisten. Und durch dieses Beitragen werden sie wieder in ihrem Selbstvertrauen, und ihrem Selbstwertgefühl bestärkt. Sie werden noch selbständiger. Man sieht, wie sich dieser Prozess selbst verstärkt.
Selbstbewusste Kinder finden durch ihr entschlossenes Auftreten sehr leicht Anschluss. Sie brauchen keinen Verbündeten, um sich sicher zu fühlen. Da sie sich ihre grundsätzliche Selbstachtung über keine Gruppe holen müssen, können sie sich die Gruppen, zu denen sie gehören möchten, selbst auswählen sowie über den optimalen Einsatz ihrer Stärken und Fähigkeiten entscheiden. Sarah könnte zum Beispiel mit ihrem Organisationstalent eine Nachhilfegruppe für lernschwächere MitschülerInnen gründen, aber auch vermittelnd eingreifen, wenn es Streit zwischen Mitschülern oder unter den Geschwistern gibt.
Der Nachteil ist, dass selbstbewusste Kinder oft schwer lenkbar sind. Schließlich haben sie ihren eigenen Kopf, und da kann es schon manchmal vorkommen, dass ihre Vorstellungen mit unseren kollidieren. Aber unsere Erziehungsaufgabe ist ja, sie anzuleiten, auf ihre Art mit dem Leben zurecht zukommen, und nicht, mit ihnen fertig zu werden. Und was dürfte der Menschheitsentwicklung noch zuträglicher sein? Kämen die Houston Astros sehr weit, wenn alle Zwischenspieler wären? Natürlich nicht. Eine Gruppe benötigt Anführer, Vermittler, Sympathisanten, Jäger, Sammler, Heiler, Erfinder, Lehrer und so weiter.
Indem wir unsere Kinder zur Selbständigkeit anleiten, können wir als Eltern aus diesem Herdentrieb Kapital schlagen. Schließlich wollen sie uns, den Alphawölfen, instinktiv gefallen. Sie wollen das Gefühl haben dazuzugehören und etwas Besonderes leisten. Unsere Aufgabe ist es, ihnen zu zeigen, wie das geht, und dabei soll dieses Buch helfen. Ermutigen wir sie also zur Eigenständigkeit statt zur Anpassung. Ermutigen wir sie dazu, sich lieber verdient zu machen, als Anerkennung zu erbetteln, lieber auf eigene Beiträge zu setzen als auf Konformität.
Vielleicht fragen Sie sich, „Was bringt es, diese Eigenschaften zu fördern und Kinder zur Eigenverantwortlichkeit zu erziehen?“ Ich behaupte, dass, wenn Kinder diese fünf Eigenschaften haben, sie nicht mehr nach äußeren Quellen der Anerkennung suchen müssen. Je weniger sie auf äußere Einflüsse bauen, desto stärker werden diese fünf Eigenschaften in ihnen und desto weniger brauchen sie die äußere Welt zur Ausbildung oder Stärkung ihrer Identität. Es ist eine unendliche Aufwärtsspirale Richtung Selbstverwirklichung. Schließlich haben sie, was sie zu ihrem Glück in der Welt brauchen. Und Hand aufs Herz: Was können wir mehr verlangen?
Außengesteuertheit versus Eigenverantwortung
Wir wollen nun etwas genauer betrachten, was Außengesteuertheit gegenüber Eigenverantwortung bedeutet. Dazu müssen wir bei der frühkindlichen Ich-Entwicklung beginnen. Wir werden sehen, wie in den verschiedenen Phasen, in denen sich der Verstand ausbildet, verschiedene Entscheidungen fallen. Sie bewirken ab einem bestimmten (Ich-Findungs-) Punkt, dass entweder die Urteilskraft nachlässt und die Anpassung an die äußeren Faktoren überwiegt, oder dass das eigene Tun und Lassen dem individuellen Richtigkeitsempfinden entspringt. Ersteres ist der Weg der Außengesteuertheit bzw. Fremdbestimmtheit, letzteres derjenige der Eigenverantwortung.
Neugeborenenstatus
Bei der Geburt haben Kinder kein konkretes Selbstbild. Wie sollten sie auch, da sie sich ihrer Möglichkeiten und Grenzen noch völlig unbewusst sind? Schließlich entwickelt sich kein Selbstbild aus dem Nichts. Kinder brauchen zwischenmenschliche Begegnungen, damit sie durch diese individuellen Auseinander-Setzungen einen Begriff davon bekommen, wer sie sind. Es ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg ihrer Selbstfindung. In diesem Stadium sollten die Eltern sich auf die Gewahrwerdung ihrer innigen Verbundenheit mit dem Kind konzentrieren (natürlich neben der Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse). Kinder brauchen das Gefühl bedingungsloser Liebe und Fürsorge, damit sie später auf dem harten Weg der Selbsterkenntnis auch einen Rat von uns annehmen können. Bedingungslose Liebe gibt dem Kind zu verstehen, dass es so von uns angenommen wird, wie es ist, ganz gleich „was“ einmal aus ihm wird.
Kleinkindstadium
In diesem Stadium beginnen die Kinder, sich gezielt mit der Umgebung auseinander zu setzen und Gesetzmäßigkeiten ausfindig zu machen. Sie merken rasch, dass Aktionen Reaktionen bedingen, und verfolgen ganz genau, was womit zusammenhängt. Wenn Johnny schwarze Bohnensuppe vertropft, macht es „platsch“ und Mutti eilt herbei und jammert unbegreiflicherweise, während sie den schönen Klecks aufwischt. Oder wenn Rachel zum ersten Mal aus einer Tasse nippt, erlebt sie, wie man in ihrer Familie vor Freude jauchzt, auf und ab springt und sich überhaupt wie ein Haufen Verrückter aufführt. Die Beispiele zeigen uns, wie sich das kindliche Selbstverständnis in diesem Stadium anhand zunehmender Körperbeherrschung entfaltet und zwar in engem Zusammenhang mit äußeren Reaktionen darauf.
Vorschulkinder und jüngere Grundschüler
In dieser Phase sind Kinder erstmals massiv auf Beurteilungen anderer angewiesen. Nicht nur sind sie jetzt mehr Menschen ausgesetzt (wie LehrerInnen, MitschülerInnen, FreundInnen und NachbarInnen), sondern sie erkennen auch langsam, dass sie nicht von allen bedingungslos geliebt und anerkannt werden. Weiter sind die Kinder nun in dem Alter, wo sie verschiedene Fähigkeiten entwickeln, die kontrollierbar und kritisierbar sind, – wie schnell sie ihre Schuhe binden, wie gut sie lesen, ob sie den Ball weiter als einen Meter schießen können, und ob sie zugeben, Barney Videos geguckt zu haben. Dieses laufende Geprüft- und Gelobt- und Getadeltwerden spielt bei der Ausformung eines abstrakteren, äußerlichen Selbstverständnisses eine wichtige Rolle.
Ältere Grundschüler und weitere
Bereits ab der dritten Klasse vergleichen Kinder das eigene Selbstverständnis laufend mit den Bewertungen anderer. Sie sind sich schmerzlich bewusst, dass alles an ihnen von ihrer Umgebung beurteilt wird, Grundeinstellung, soziale Fähigkeiten, Persönlichkeit, intellektuelle Kompetenz, körperliche Erscheinung, Sportlichkeit und so weiter. In dieser Phase entscheidet sich gewöhnlich, ob sie ihr Selbstwertgefühl auf Fels oder auf Sand bauen – da die Kinder dazu