Sie zog ihr Hauskleid und ihre Pantoffeln an und warf sich in den Sessel vor ihrem Walnussschreibtisch. Sie war für den Ausschuss ungeheuer nützlich, denn der Gedanke, das, was sie schrieb, als Propaganda zu sehen, war für sie weder neu noch schockierend. Sie zog die neue Linie der alten vor: Ihr lag viel näher, in arbeitenden Frauen liebevolle, verantwortungsbewusste, ja sogar aufregende Staatsbürgerinnen zu sehen, als die Linie, die propagiert worden war, seit sie zu veröffentlichen begann, dass nämlich die arbeitende Frau eigenmächtig sei, selbstsüchtig, eine Gefahr für ihre Familie und die Gesellschaft.
In ihrer Familie hatten die Frauen immer gearbeitet. In Ungarn hatte ihre Großmutter einen Geflügelhandel betrieben, hieß es. Ihre Mutter hatte in einer Konservenfabrik gearbeitet, bis TB sie von Louise fortriss in ein Sanatorium und schließlich in einen frühen Tod. Oscar hatte nie den Wunsch, dass sie untätig blieb oder die Arbeit im Haushalt zu ihrer ganzen Existenz machte. Doch wollte er selbstverständlich, dass sich die gesamte Aufmerksamkeit dieser intelligenten Frau auf ihn konzentrierte. Ihre Arbeit war gut und schön, solange sie alles fallen ließ, wenn er sie brauchte, um seine wissenschaftlichen Aufsätze zu tippen, zu lesen und zu begutachten und seinen Stil zu verbessern, ihm den Rücken zu massieren und sich seine Klagen über seine Kollegen anzuhören.
Das war der Grund, warum sie nur ein Kind hatten. Ihr war kurz nach Kays Geburt klar geworden, dass sie bei seinen Anforderungen an sie nur mit Mühe zurechtkommen würde. Sie musste ständig das, was Kay brauchte, mit dem austarieren, was Oscar verlangte. Sollte sie mit ihm über Kays Widerspenstigkeit reden? Sie mied Oscar dieser Tage. Beinahe mit ihm ins Bett gefallen zu sein hatte sie genügend aufgeschreckt, so dass sie es seitdem eingerichtet hatte, ihn nicht zu sehen, außer für die paar Augenblicke, wenn er Kay abholte oder wieder ablieferte.
Kay erschien kurz vor sieben, zum Abendessen. »Wo warst du?« Louise folgte ihrer Tochter in deren Zimmer. »Warum hast du mich nicht abgeholt? Ich habe in der Pennsylvania Station über eine halbe Stunde auf dich gewartet.«
»Mutter, ich habe gestern Abend bis halb zwölf versucht, dich anzurufen, aber du warst nicht auf deinem Zimmer. Schließlich hat diese schreckliche Frau gesagt, ich soll nicht mehr anrufen. Hat sie dir nichts ausgerichtet?«
Louise hatte unten in der Bar gesessen, bis geschlossen wurde. Sie war mit Claude Martel zusammen gewesen, einem Filmregisseur, den sie im Statistischen Bundesamt kennengelernt hatte. »Die schlief schon, als ich kam – wir hatten eine Konferenz bis spät in die Nacht, um neue Richtlinien auszuarbeiten. Warum warst du nicht am Bahnhof? Du wusstest, dass ich mich auf dich verlassen habe.«
»Ich hatte eine Verabredung, die ich nicht absagen konnte.«
»Du kannst sehr wohl eine Verabredung absagen, wenn deine Mutter dir aufträgt, sie vom Zug abzuholen! Ich hatte tonnenweise Gepäck.«
»Mutter, ich verstehe einfach nicht, warum du so ein Geschrei machst! Du hast es doch geschafft – du bist da. Wenn du in deinem Hotelzimmer gewesen wärst, hättest du gestern Abend meine Nachricht bekommen.«
Louise sah im Geiste Claude Martel an dem Tischchen vor sich. Sie hatte mit einem Dramatiker aus dem Mitarbeiterstab geflirtet, aber das erste ernsthafte Tête-à-Tête mit Martel hatte diese zerbrechliche Konstruktion zertrümmert. Claude war Sohn einer rumänischen Jüdin, die einen französischen Geschäftsmann geheiratet hatte; die späten dreißiger Jahre hatten Claude nach Hollywood gebracht, wo er sich als meisterhafter Tonfilmregisseur erwiesen hatte. Jetzt war er bei Universal. Sie schätzte sein Alter auf fünfundvierzig. Dynamisch, magnetisch, dunkelhaarig, helläugig, war er der erste Mann, der sie seit Oscar anzog. Gegenüber ihrer Tochter hatte sie ein etwas schlechtes Gewissen, so lange mit ihm zusammengesessen zu haben, über den Flirt hinaus in die Erkundung. Er hatte gesagt, er würde Mitte des Sommers in New York sein und sich dann mit ihr treffen. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sie war überzeugt, er begegnete einer Vielzahl von Frauen, die jünger waren und wesentlich aufsehenerregender aussahen als sie. Trotzdem war es beruhigend, ihre Anziehungskraft zu spüren, es nahm ihr die Furcht, grundsätzliche Treue zu Oscar könnte auf ewig ihr Los sein. Dieser Abend gab ihr ein Gefühl von Dichte und Schwere, sinnlicher als die paar Mal im Bett mit Dennis Winterhaven. Obwohl nichts weiter geschah als Reden und Händchenhalten, fühlte sie sich von Claude berührt wie von keinem anderen Mann seit Oscar. Deshalb befürchtete sie, dass ihre Tochter ihr diese Affäre vom Gesicht ablesen konnte, in deutlich geschriebenen Worten.
»Mrs. Shaunessy ruft uns, Mutter. Das Abendessen steht auf dem Tisch.«
»Ich möchte nicht, dass du ungezogen zu ihr bist, Kay. Du wirst dich mit ihr einigen, und du wirst freundlich zu ihr sein.«
»Sie ist nicht meine Mutter. Sie darf mich nicht herumkommandieren.«
»Sie ist mein Ersatz, wenn ich fort bin, und du wirst sie gut behandeln. Kay, du hast Mrs. Shaunessy immer lieb gehabt. Was soll diese verächtliche Haltung?«
»Du meinst die Zeit, als ich ein Kind war. Dabei ist sie nur eine Dienstbotin. Sie hat kein Recht, mit mir zu reden, wie sie es tut.«
»Sie ist eine Respektsperson, der Achtung gebührt, und sie kennt dich, seit du klein warst. Sie hat für dich gesorgt. Wo warst du heute Nachmittag?«
Kay warf sich schmollend auf einen Stuhl im Esszimmer. Oh Jugendzeit, oh Kinderkacke, dachte Louise. Ich hatte nie die Möglichkeit, solche Allüren zu haben und solche Anfälle zu kriegen. Vielleicht ist das ein Geschenk, das ich ihr mache, die Möglichkeit, emotional um sich zu schlagen, ohne dass es etwas kostet. Louise hasste Streit bei Tisch, so verschob sie die Auseinandersetzung, bis sie den Lammbraten genossen hatten, den Mrs. Shaunessy ergattert hatte. Gelbe Schwertlilien in einer blauen Vase. Louise war immer noch erleichtert, daheim zu sein, aber in ihr Glück mischte sich die Verärgerung über ihre Tochter.
Eine Haushälterin zu beschäftigen war eine heikle Angelegenheit für ihr Gewissen, aber sobald die Entscheidung einmal getroffen war, hatte sie sich rasch daran gewöhnt. Ohne Mrs. Shaunessy hätte sie nur halb so viel geschafft. Vor langer Zeit hatten sie ihren Umgang miteinander festgelegt. Sie siezten sich und plauschten nicht. Mrs. Shaunessy klatschte mit ihren Freundinnen, die in anderen Haushalten im gleichen großen Mietshaus arbeiteten. Mrs. Shaunessys Zimmer war für alle Übrigen tabu, und was sie ihnen kochte, aß sie in der Küche – wo auch Louise aß, wenn sie allein war, und wo Kay aß, wenn Louise nicht da war. Mrs. Shaunessy hatte mittwochnachmittags und sonntags frei, wo sie ausnahmslos den Zug in das Fünf-Städte-Gebiet auf Long Island nahm, um die eine oder die andere ihrer verheirateten Töchter zu besuchen.
Dennoch fasste Louise die Widersprüche ihres Lebens in einem Satz zusammen, den sie sich einmal hatte sagen hören: »Sag bitte Mrs. Shaunessy, sie soll den Daily Worker auf den Couchtisch legen.« Sie war eine Sympathisantin, die der Kommunistischen Partei nie beigetreten war, weil es für sie stets einen Teil der momentan gerade gültigen Parteilinie gab, mit dem sie nicht einverstanden war. Stets hatte sie Bedenken, Vorbehalte, Einwände. Es war ein langer Flirt gewesen, doch falls nicht entweder sie oder die Partei sich drastisch änderte, würde sie wohl nie schwören zu lieben, zu ehren und zu gehorchen. Der Hitler-Stalin-Pakt besiegelte und verplombte ihre Entscheidung wie einen endgültig zuplombierten Zahn.
Sie bereitete den Kaffee und trug ihn ins Wohnzimmer, wie sie es immer tat. Sie fand, mit dem Abwasch des Geschirrs vom Abendessen sollte Mrs. Shaunessys Arbeitstag beendet sein. Kay hatte in letzter Zeit begonnen, Kaffee zu trinken. »So, wo warst du heute Nachmittag, Kay?« Sie gab sich Mühe, forsch zu klingen, fest.
»Ich hatte ein Rendezvous.«
»Ein was?« Aber sie hatte Kay deutlich gehört. »Mit wem?«
Kay