Menschen im Krieg – Gone to Soldiers. Marge Piercy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marge Piercy
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Книги о войне
Год издания: 0
isbn: 9783867548724
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angesetzt wurde. Das erinnerte ihn daran, wie Haskel ihm das Schwimmen beibringen wollte, indem er ihn im YMCA vom Rand des Beckens schubste. Er wurde in tiefes und kabbeliges Wasser geworfen, inmitten eines tosenden Sturms unbegreiflicher Direktiven. Doch irgendwie lernte er. Wochenlang begriff er den Zweck dieser fieberhaften Aktivitäten nicht, doch er versuchte, sich seinen Weg zu bahnen.

      Anfangs fühlte sich Daniel bei Sektion 20-G in Washington fehl am Platz. Die Hälfte des Personals bestand aus Marinestabsoffizieren, den Annapolis-Absolventen, die als Teil ihrer Ausbildung einige Zeit in Japan verbracht hatten. Die andere Hälfte bestand aus Zivilisten, Männern und Frauen, deren Herkunft und Werdegang sie mit der japanischen Sprache und Kultur verband. Mehrere von ihnen waren Nisei, in den USA geborene Japaner, andere waren teilweise japanischer Abstammung oder hatten japanische Ehepartner. Daniel brachte ihnen nicht das Misstrauen gegen alles Japano-Amerikanische entgegen, das typisch für die meisten Amerikaner und sogar offizielle Regierungshaltung war. Nach der Verhaftung und Internierung von Japano-Amerikanern hatte die Marine ihre eigenen Nisei von der Westküste nach Colorado verlegen müssen, um sie zu schützen. Ohne sie wäre das Programm lahmgelegt gewesen.

      Er zog in das erste Zimmer, das er in der überfüllten Stadt finden konnte, bei einer lautstarken Familie aus Kentucky, die ihm fürchterlich auf die Nerven ging. Schließlich fragte ihn ein Kollege aus seiner Abteilung, ob er sich eine winzige Wohnung draußen unweit Maryland, im dritten Straßenalphabet, mit ihm teilen wollte, weit vom Capitol und von ihrer Arbeitsstätte entfernt, aber eine Wohnung nur für ihn und Rodney. Er sagte zu, ohne sie gesehen zu haben. Das war auch gut so, denn sie war dunkel, eng und heiß, im zweiten Stock direkt unter dem Dach, ohne Fahrstuhl und mit einer Aussicht aufs nächste Dach, die reichliches Anschauungsmaterial zum Paarungsverhalten von Tauben lieferte.

      Sie hatten nur zwei Zimmer und eine winzige Küche. Rodney, der die Wohnung aufgetrieben hatte, beanspruchte das Schlafzimmer. Daniel bekam das Schrankbett im Wohnzimmer. Er fühlte sich wie zu Hause, denn sein Bett in der Bronx war genauso eine Zumutung gewesen. Er beschloss, das Bett in seinem Schrank zu lassen und auf einer Matratze auf dem Fußboden zu schlafen. So bestand eine Ecke ihres Wohnzimmers aus seiner Matratze mit einem Haufen zusammengewürfelter Kissen, darunter auch seine Kopfstütze aus geflochtenem Bambus in Form eines Löwen, die er seit Schanghai immer auf seinem Bett gehabt hatte. Darüber hängte er die Schriftrolle, die er mit Hilfe eines Freundes in Soochow erhandelt hatte. »Wie eine Künstlerbude«, grummelte Rodney, aber da er das Schlafzimmer nicht abtreten mochte, blieb es bei diesem Patt. Rodney sprach kaum mit Daniel außer in betrunkenem Zustand, dann schwafelte er endlos über seine Probleme beim Verführen von Frauen.

      Washington war kein gigantisches, kosmopolitisches Bienenhaus wie New York und Schanghai, kein Zentrum intellektuellen Lebens wie Boston. Es war eine wuchernde Südstaatenstadt, die sich im halben Tempo von New York bewegte. Viele der jüngeren Männer und Frauen gingen barhäuptig, wohingegen in New York alle Hüte trugen. Es gab in der ganzen Stadt nicht einen Wolkenkratzer. Alles war nach Rassen getrennt und für Farbige und Weiße gekennzeichnet. Ihm kam das nicht nur rüde, sondern töricht vor, dicht an hysterischem Verhalten. Die farbige Bevölkerung von Washington war groß und schien recht heterogen, obwohl nahezu durchgängig in elenden Wohnverhältnissen lebend, viele in sogenannten Hinterhofhäusern, die hinter den eigentlichen Häusern in wimmelnden Pferchen standen und ihn an die zwielichtigen Viertel von Schanghai erinnerten.

      Jeden Tag fuhr er mit der Straßenbahn zum Marinegebäude an der Achtzehnten Straße Ecke Constitution Avenue, ging an den Marinewachen vorbei hinauf zum dritten Deck – als Erstes hatte er hier lernen müssen, Stockwerke Decks zu nennen, Wände Schotten und anderen Marineunsinn – und begab sich in die Abteilung für feindliche Funksprüche. Sektion 20-G war kein stiller Winkel intensiven Studiums, keine glückliche Familie, kein Ort, an dem man willkommen geheißen wurde und als fröhliches Rädchen im großen Getriebe seinen Platz angewiesen bekam. Es war ein Irrenhaus. Mitarbeiter, die schon vor dem Krieg dabei gewesen waren, schienen von dem Schuldbewusstsein geplagt, dass Pearl Harbour zum großen Teil eine Marinepanne und somit eine Panne der Marineabwehr gewesen sei. Sie arbeiteten wie besessen. Ihr Chef brüllte, tobte, trieb sie an und wachte ständig darüber, dass jedes Gespräch sich auf die Arbeit bezog und nur auf die Arbeit. In einer Ecke saß der frühere Sektionsleiter, und Pearl Harbour hing ihm am Hals wie der tote Albatros dem Alten Seemann. Niemand würdigte ihn eines Blickes, und er schien wenig zu tun zu haben außer einem endlosen Autopsiebericht.

      Daniel hatte keine Ahnung, wie er dazu kam, Verbindungsmann, ein vornehmeres Wort für Botenjunge, zu William Friedman zu werden, aber die vorige Kontaktperson war zum Marinenachrichtendienst in Pearl Harbour versetzt worden, wo es eine weitere Kryptologieabteilung gab. Niemand erklärte ihm das. Und niemand erklärte ihm, woran sie arbeiteten, nämlich an japanischen Geheimcodes. Die Sektion schien nach den gleichen Grundsätzen zu arbeiten, nach denen in Boston Straßenschilder errichtet wurden: als Zeichen für die, die sich schon auskannten, und mit deutlichem Misstrauen Fremden gegenüber, mit der eingefleischten Überzeugung, wer nicht schon wusste, wo er war, hatte dort auch nichts zu suchen.

      William Friedman stand dem Sicherheitsamt der Fernmeldetruppe vor, gleich nebenan auf der Mall in einem weiteren Labyrinth namens Zeughaus oben im dritten Stock – wo Stockwerke Stockwerke waren. Daniel ging gern hinüber. Friedman war eine Vaterfigur, nicht nur für ihn, sondern auch für seinen eigenen Stab. Er war kein gemütvoller Vater, sondern ein kühler, unnahbarer, allwissender Vater, der sorgfältig auf die Schulung seines Personals achtete. Sein Schreibtisch und sein Kopf schienen stets aufgeräumt. Daniel fand die Atmosphäre in seinem Amt erfrischend und beruhigend zugleich. Hier wurde genauso hart gearbeitet wie bei der Marine, aber die Atmosphäre war klar, vernünftig und freundlich.

      Friedman war ein kleiner, gepflegter, adretter Mann, Träger von Gamaschen, eleganten dreiteiligen Maßanzügen, von Schuhen, die nicht blankpoliert blitzten, denn dafür war das Leder zu weich und zu fein, sondern von innen heraus warm schimmerten wie altes Geld. Doch Friedman war Jude. Er war in Kischinjow, nun Sowjetunion, geboren worden und als Kleinkind ausgewandert. Er sprach ohne Akzent bis auf eine bestimmte O-Färbung, die Daniel mit Pittsburgh verband. Friedman war ein Genie. Das Vokabular, in dem Daniels neuer Beruf sich ausdrückte, war von Friedman persönlich geprägt worden, bis hinunter zu der Bezeichnung, die seine Tätigkeit beschrieb: Kryptologe.

      Friedman hatte eine Frau, Elizebeth, die in dem Metier, das diese beiden zu großen Teilen erfunden hatten, fast den gleichen Ruf genoss wie er. Beide waren seit den zwanziger Jahren in Washington und ersannen Codes für die meisten Regierungsinstitutionen, die welche benötigten, von der Armee bis zum Finanzministerium, von der Küstenwache bis zu Oberst Donovans verwegenem Geheimdienstunternehmen. Sie hatten auch Codes entschlüsselt und waren als Sachverständige in zahlreichen Prozessen aufgetreten. Es hieß, Friedman sei seiner Frau innig verbunden, regelrecht verrückt nach ihr. Kein Hauch von Skandal hatte je ihre Beziehung getrübt. Aber Friedman war vor Pearl Harbour aus der Armee entlassen worden und nun Zivilist. Es hieß, die Anstrengung, den diplomatischen Code der Japaner, genannt Purpur, zu knacken, habe bei ihm zu einem Nervenzusammenbruch geführt, und die Armee hätte diesen Augenblick gewählt, um ihn für seine Extravaganz zu bestrafen. Was es auch war, Friedman umwehte ein Hauch von Trauer, dachte Daniel, als hätte er zu viel gesehen – eine philosophische Traurigkeit unter der strengen und nie versiegenden Brillanz des Intellekts.

      Friedman hatte ihn bei seinem ersten Botengang scharf gemustert, ein wissender Blick, der, wie Daniel vermutete, damit zu tun hatte, dass die Marine einen der wenigen verfügbaren Juden zu ihm geschickt hatte. Dann schien Friedman im Geiste mehrere Schritte rückwärts gemacht zu haben und Daniel bei den nächsten Begegnungen unvoreingenommen zu betrachten. Schließlich brachte er ihm Interesse entgegen: nicht unbedingt ein freundliches, obwohl schon in dieser Beachtung eine Art Freundlichkeit lag. Friedman war ein Mann, der Förmlichkeit als Waffe benutzte, da er sich in diesem militärischen Milieu oft schützen musste. Judenverhöhnung und Antisemitismus grassierten in Washington. Daniel fragte sich manchmal, ob nur die geringe Zahl der ortsansässigen Juden die Stadt davon abhielt, eine dritte Kategorie von Toiletten und Schulen einzurichten.

      Es wurde Ende April, bis er zu verstehen begann, was sie da eigentlich taten, auch wenn ihm schon aufgefallen war, wie Washington sich um ihn herum veränderte, vor Uniformen starrte, das Gewusel auf den