Menschen im Krieg – Gone to Soldiers. Marge Piercy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marge Piercy
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Книги о войне
Год издания: 0
isbn: 9783867548724
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Kind zu erschrecken, wenn es bei Bewusstsein war. Als ihr Sohn starb, schwor sie, niemals wieder Tränen zu entrichten. Schwor, sie alle aus Deutschland herauszuholen, schwor, ihre Wurzeln herauszureißen, die bis ins Zentrum dieser vertrauten Erde reichten, und nie wiederzukehren, und wenn sie zweihundert Jahre alt wurde. Oh ja, sagte Mrs. Hirsch, sie hat mich hergeholt. Sie konnte meinen Mann nicht retten, nicht ihren eigenen Mann und nicht ihr Kind, aber sie hat ihre Eltern gerettet, und sie hat mich gerettet.

      Bernice 2

      Bernice auf Kontrollflug

      Jeden Montag, jeden Mittwoch und jeden Freitag schwang Bernice sich morgens um sieben Uhr dreißig auf ihr Schwinn-Fahrrad und machte sich bei Regen oder Sonnenschein oder jahreszeitlich verspäteten Schneeschauern auf den Weg zum Flugplatz und hoffte, das Wetter würde ihr gestatten, pünktlich zu starten. Sie hatte eine alte Lederjacke von Jeff dabei – das Flugzeug war natürlich ungeheizt –, ihr Mittagbrot und eine kleine Plastikflasche mit einem Trichter, in die sie urinierte und die sie in ihrem leeren Provianteimer versteckte, wenn sie landete. Sie hatte keine Ahnung, wie andere Piloten zurechtkamen, denn sie hatte sich diese Methode selbst ausgedacht.

      Bernice hatte es nie als Glücksfall betrachtet, mitten in Massachusetts zu leben, doch jetzt tat sie es. Frauen war nicht gestattet, für die Zivile Luftkontrolle über die Küstenregion zu fliegen, denn das galt wegen der deutschen U-Boote als gefährlich. Die Zivile Luftkontrolle sah Frauen, die für sie flogen, ohnehin schief an. Als Bernice sich meldete, hatte man sie streng informiert, dass Frauen nur Hilfstätigkeiten offen standen, Büroarbeiten. Sie hatte schon fast aufgegeben, nach wochenlangen Schreib- und Registrierarbeiten, aber der Bedarf an Piloten war groß, und Bernice hatte mindestens so viel Erfahrung wie die meisten Männer, die für die Zivile Luftkontrolle flogen. Sie blieb hartnäckig, bis nun auch sie regelmäßig flog.

      Irgendwann Ende April oder Mitte Mai war es dann so weit, dass sie endlich zweihundert Flugstunden in ihr Logbuch eintragen konnte. Sie strebte heftiger denn je die Verkehrspilotenlizenz an, aber dazu fehlten ihr nicht nur Flugstunden, sondern vor allem das Geld. Die Freiwilligen der Zivilen Luftkontrolle arbeiteten ohne Bezahlung, und obendrein hatte sie jetzt wesentlich weniger Zeit, um Fakultätsmanuskripte abzutippen. Wenn sie wenigstens eine Ausbilderlizenz erwerben konnte, dann wurde sie vielleicht ins Kriegsdienstschulungsprogramm aufgenommen, in dem den Studenten das Fliegen beigebracht wurde. Alle Studentinnen waren aus dem Programm gefeuert worden, aber Ausbilderinnen wurden immer noch beschäftigt.

      Auch wenn das Fliegen für die Zivile Luftkontrolle ihr keinen Cent brachte, so hatte sie doch drei Tage in der Woche Seligkeit, und wenn der Professor an diesen Abenden wegen seines Essens knurrig war, so hatte sie die Entschuldigung der Rationierung. Außerdem konnte er nichts daran aussetzen, dass sie sich freiwillig in den Dienst der Kriegsanstrengungen stellte.

      Was ihr schwerfiel, war, plangemäß zurückzukehren, nachdem sie ihre Route abgeflogen und Überlandleitungen auf Sabotage und bewaldete Gebiete auf Feuer überprüft hatte. Sie spürte einen Drang, wohl ebenso stark wie der Paarungstrieb bei Hirschen oder Hunden, weiterzufliegen, bis sie den fernen, unbekannten Ozean erreichte. Sie hatte einen umfassenden Blick auf die kleinen verrunzelten Hügel ihrer Heimat, den breiten Connecticut, die nach Norden ziehenden Falken und die Scharen kleinerer Vögel, das Ackerland unter seinen Frühjahrslachen, die sich über den Berkshires zusammenballenden Regenwolken, die Aufwinde um Mount Tom. An drei Tagen jeder Woche war sie selig und nützlich, eins mit dem Werkstoffkörper, der ihren eigenen verlängerte. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte es wohl keine Zeit mehr gegeben, da sie an drei Tagen jeder Woche glücklich war.

      Manchmal wurde sie an anderen Tagen gerufen, um als Kurier für Dokumente oder Chemikalien oder Blutplasma zu fungieren, um in einer Luftschutzübung einen feindlichen Bomber darzustellen, und zweimal, um nach einer abgestürzten Militärmaschine zu suchen. Ihr Leben hatte einen Sinn. Sie sagte die Sonntagsfilme mit Mrs. Augustine ab, denn sie musste die Hausarbeit nachholen und das Abtippen, das ihr die Verkehrspilotenlizenz erkaufen konnte, in ferner Zukunft, aber nicht mehr völlig undenkbar. Sie musste das gleiche Arbeitspensum, das bislang sieben Tage ausgefüllt hatte, in die verbliebenen vier hineinstopfen. Aber vor allem hatte sie drei Tage, das zu tun, wofür sie geboren war, drei Tage, an denen sie das kleine Flugzeug anlegte wie einen hauchzarten, erweiterten Körper, insektenartig um sie herum, schön wie eine Libelle, obwohl nur für sie mit Juwelen geschmückt, und schwang sich in die Lüfte.

      Als sie an diesem Abend vom Flugplatz nach Haus radelte und nur hielt, um Flundern zu kaufen und das weiße Päckchen ordentlich im Lenkstangenkorb zu verstauen, wartete auf dem Tischchen im Flur ein Brief von Jeff. Er saß immer noch unten in Alabama fest und hasste jede Minute seines Lebens, die er dort vegetieren musste. Bernice hatte erwartet, Jeff würde in die Luftstreitkräfte der Armee aufgenommen werden, denn die Armee suchte angeblich verzweifelt Piloten und Jeff hatte seinen Pilotenschein, auch wenn er seit Jahren nicht geflogen war. Doch nein, die Armee hatte auf seine unentdeckten Talente als Ausbilder von Gewehrschützen gesetzt. Er war zu einem Offizierslehrgang geschickt und zum Leutnant ernannt worden und saß nun offenbar auf dem Schießstand fest. Er behauptete, inzwischen von Kopf bis Fuß mit Greisenbart bedeckt zu sein, dem in Schleiern von den Bäumen hängenden Spanisch Moos. Sie hatte eine Mischung aus Neid und bösen Vorahnungen empfunden, als sie Jeff in den Zug gesteckt hatte, aber wenigstens war er in Sicherheit, solange keiner seiner Schüler arg danebenschoss, und langweilte sich weit mehr als sie.

      Sie brachte in diesen Tagen öfter Fisch auf den Tisch, nicht nur, weil rotes Fleisch rationiert, sondern auch, weil Fisch rasch zubereitet war. Sie konnte nach ihrem Patrouillenflug nicht vor sieben zu Hause sein. Unseligerweise war so der Professor an Flugtagen immer lange vor ihr daheim, und der neue häusliche Ablauf gefiel ihm ganz und gar nicht. Während sie hastig ihre Sachen in den Flurschrank warf und mit ihren Einkäufen durchs Wohnzimmer zur Küche eilte, fixierte er sie mit seinem besten, tadelnden ›Sie werden diesen Kurs verhauen, wenn Sie sich nicht zusammenreißen‹-Blick.

      »Gibt es einen Grund, warum du heute Abend noch später kommst als sonst?«

      »Vor dem Fischgeschäft war eine lange Schlange. Wegen der Fleischrationierung essen alle mehr Fisch.«

      »Dass wir mehr Fisch essen, ist mir allerdings aufgefallen.«

      Ihre Methode, mit der schlechten Laune ihres Vaters umzugehen – zumal er damit nicht offen herausrückte und ihr lauthals zu verstehen gab, was ihn erboste –, war, so zu tun, als bemerkte sie seine Verärgerung gar nicht. Nun warf sie ihm ein kurzes, freud- und bedeutungsloses Lächeln zu und eilte in die Küche.

      »Du wirst dich doch nicht in diesem Mechanikeraufzug an den Abendbrottisch setzen?«

      Als ob er je wahrnahm, was sie trug. Als ob irgendjemand je darauf achtete. »Essen ist bald fertig.«

      Er gab ein Missfallensräuspern von sich, sagte aber nichts mehr, sondern stellte das Radio lauter. Jeden Abend las sie über den Krieg im Globe, hörte sich die Kommentare und Analysen an, studierte die Frontberichte mit dem Atlasband der dreizehnten Ausgabe der Encyclopedia Britannica offen auf dem Schoß. Die Alliierten waren schlichtweg überall deutlich am Verlieren. Auf einer Karte von den Philippinen verfolgte sie die Erosion der amerikanischen und philippinischen Stellungen. In Afrika wogten die Kämpfe hin und her, endeten aber gewöhnlich mit einem Rückzug der Alliierten.

      Heute Abend waren die Nachrichten schrecklich, und sie merkte, dass sie sich in der großen Küche noch langsamer bewegte. General King hatte bei Bataan kapituliert. Es hörte sich an, als wäre ein kleiner Teil der Truppen nach Corregidor evakuiert worden, wo sich die Armee zu halten hoffte. Diese Festungsinsel war angeblich uneinnehmbar. Etwa 90 000 Filipinos und Amerikaner hatten sich den Japanern ergeben. In Russland tobten schwere Kämpfe tief im Landesinnern, wobei die Deutschen wieder auf dem Vormarsch waren.

      Warum nahm sie die Niederlage so persönlich? Als ob es ihre eigene wäre. Sie durchlebte einen Augenblick glühenden und verzweifelten Zorns, während sie dastand und Kartoffeln, die sie im Morgengrauen gekocht hatte, in das Fett vom Sonntagshuhn schnitt, in dem schon Zwiebeln leicht bräunten. Ja, es roch köstlich, und doch war es ihr speiegal. Sie wollte keine Bratkartoffeln machen, während Millionen Menschen starben und die Welt in Flammen stand. Sie fühlte sich