Hatte Rivka schon ihre Regel? Sie schloss die Augen und versuchte, ihre Zwillingsschwester zu fühlen, aber es gelang ihr nicht. Sechs Uhr. Dann war es Mitternacht in Paris, und Rivka schlief schon. Es wäre so schön, wenn sie mit Rivka reden könnte: Dann wüsste sie, ob sie glücklich war oder unzufrieden. Wenn du eine Zwillingsschwester hast, bist du nie einsam, außer, ihr seid getrennt, und dann kann niemand je verstehen, was dir fehlt, nur du selbst.
Für einen Moment überkam sie trostloser Zorn auf ihre Eltern, die sie getrennt hatten. Es hatte eigentlich nicht für lange sein sollen. Papa hatte sich einen Ausweis besorgt, der ihm erlaubte, in die Vichy-Zone zu fahren, dazu die Papiere und die carte d’identité von einem Mann mit Namen Antoine Saligny, der im Süden geschäftlich zu tun hatte. Auf dem Ausweis war auch eine Tochter eingetragen, aber nur eine. Antoine Saligny war an einem Herzschlag gestorben, kaum dass sein Ausweis genehmigt war, und Papa hatte die Papiere gekauft. Ursprünglich wollte Papa Jacqueline mitnehmen, aber die lehnte ab, weil die Prüfungen für ihr baccalauréat bevorstanden. Dann hatte Papa Naomi gewählt als die Zweitälteste – sie war eine Viertelstunde vor Rivka zur Welt gekommen.
Papa plante, in der Vichy-Zone Arbeit zu finden und dann den Rest der Familie zu holen. Das war dann aber schwieriger, als sie alle gedacht hatten. Es gab keine Telefonverbindungen zwischen den beiden Frankreichs. Die einzige Post, die sie schicken konnten, waren Postkarten, auf denen sie nur vorgedruckte Sätze ankreuzen durften. Um hin- und herzureisen, brauchte man eine Genehmigung. Die Vichy-Franzosen erließen im Eiltempo antijüdische Gesetze, um es den Nazis gleichzutun. Als Papa eine Möglichkeit sah, sie in die Vereinigten Staaten zu schicken, beschloss er, sie in Sicherheit zu bringen.
Also war Papa in Südfrankreich geblieben, während sie ganz allein nach New York flog, wo sie von einer Frau vom Joint, dem American Jewish Joint Distribution Committee, abgeholt und in den Zug nach Detroit gesetzt wurde. Sie war noch nie in ihrem Leben so unglücklich gewesen wie in den fünf Tagen in dem Flugzeug, das von Flughafen zu Flughafen flog, nach Casablanca und dann nach Martinique und dann nach New York, in dem Flugzeug, dessen Dröhnen noch zwei Tage hinterher ihren Kopf füllte. Ihr Englisch war doch nicht so gut, wie sie immer gedacht hatte, und sehr oft begriff sie nicht, was man ihr für Anweisungen gab, was man von ihr wollte.
Manchmal fühlte sie sich von ihrer Familie verstoßen. Warum musste sie es sein, von der sie sich trennten? Seit Beginn des neuen Krieges hatte sie keine Briefe mehr von Rivka und Maman bekommen. Sie hatte nur jene Augenblicke, die sie nicht heraufbeschwören, sondern nur hinnehmen konnte, in denen sie ihre Zwillingsschwester deutlich in sich spürte.
Tante Rose kam herein und gab ihr einen Kuss. »Ist gut, du bekommst von mir also keine Schläge, Ruthie verlangt von mir, dass ich modern und amerikanisch bin. Aber sei du jetzt ein gutes Mädchen.« Rose kniff ihr in die Wangen mit ihren schwieligen, vom Wasser verquollenen Händen, die nach Zwiebeln rochen. »Sei ein gutes Mädchen, uns zuliebe und deiner Mutter zuliebe, meiner lieben Schwester Chava, die immer an dich denkt, das weiß ich.«
Naomi nickte verlegen. Was sollte all das heftige Gewünsche, sie möge ein gutes Mädchen sein? Fing G-tt an zu zählen, wenn du deine erste Regel hattest? Vielleicht nahm G-tt dir ja alles, was du bis dahin getan hattest, nicht übel, aber von da an zählte es, jeder Gedanke und jede Tat und jede ausgeübte oder unterlassene mizwe. Sie empfand Bestürzung angesichts der Aussicht, wirklich gut sein zu müssen. Sie wechselte absichtlich das Thema. »Hat meine Mutter Chava im gleichen Alter angefangen wie ich?«
»Du bist zwölf, richtig? Ja, im gleichen Alter. Chava war da schon hübsch und ein helles Köpfchen. Ich war die Vernünftige, ich musste auf die Kleinen aufpassen. Deine Tante Batya war die Verdrehteste, am meisten hinter den Jungens her. Esther, die war noch ein kleines Kind, als ich fortging. Sie ist die, die sich gut verheiratet hat. Esther und Batya haben beide Balabans geheiratet, auch aus Kozienice, aber Batya hat den hübschen Jungen ohne Verstand geheiratet und Esther den mit der Mühle, und sie führt ihm die Bücher.«
Naomi liebte es, wenn Tante Rose von den Schwestern erzählte. Das machte die Familienbande lebendig, ließ Naomi spüren, dass sie immer noch in der gleichen Familie lebte, so verstreut über Europa und Amerika sie auch war.
Beim Abendessen, als sie sich an den Tisch setzte zu der Suppe aus Zwiebeln und Kartoffeln, zu der es das dunkle Brot gab, nach dem Tante Rose sie zum Bäcker geschickt hatte, schaute Onkel Morris sie mit solch einem Gesicht aus Wehmut und Sorge und verschmitztem Grienen an, dass sie sofort wusste, Tante Rose hatte es ihm gesagt. Am liebsten hätte sie den Löffel hingeworfen und wäre aus dem Zimmer gerannt. Was sie zurückhielt, war die Erinnerung an die vielen blöden Auftritte, die Jacqueline hingelegt hatte, wo sie meistens Maman, aber manchmal auch Papa vorwarf, gefühllos zu sein, sie nicht zu achten, sich über ihre Gedanken lustig zu machen. Rums ging der Löffel und racks ging der Stuhl, und Jacqueline rannte raus und schloss sich in die salle de bains ein. Was sie da drin trieb, blieb ihr Geheimnis. Man hörte nur heftig das Wasser laufen. Wenn sie rauskam, sah sie aus, als hätte sie eine geheime Botschaft empfangen; dann war sie sehr von sich angetan, sehr abweisend und von oben herab. Sie warf allen Blicke aus den Augenwinkeln zu, als wollte sie sagen: Ihr wisst gar nicht, wer ich bin, aber eines Tages, wenn ich Großes vollbracht habe, werdet ihr es erkennen!
Naomi beschloss, nicht so blöd zu werden wie Jacqueline. Ohne sich um die andern zu kümmern, aß sie ihre Suppe. Das Blut war nicht sonderlich beeindruckend. Sie hatte weit stärker aus der Nase geblutet, oder auch Rivka, als sie ihre Namen in eine Kastanie einritzten und das Messer abrutschte. Doch da alle ihr immer wieder verstohlene Blicke zuwarfen, sagte sie schließlich: »Ich möchte gern etwas wissen.«
»Was denn?«, fragte Ruthie im selben Moment, in dem Onkel Morris sagte: »Bist du sicher, dass du nicht bis nach dem Abendbrot warten und deine Tante fragen willst?«
»Warum finden es alle komisch oder falsch, wenn ich mit einem farbigen Mädchen befreundet sein will? Was geht das die andern an?«
Alle in ihrer neuen Familie sahen bestürzt aus, als hätte sie nach etwas noch Peinlicherem als der Regel gefragt. »Dein Onkel Morris wird es dir erklären«, sagte Tante Rose, während Arty und Sharon Gesichter zogen, als schmeckte die Suppe nicht gut. Naomi sah schon, sie würde es nie fertigbringen, wie eine Erwachsene zu sein, auch wenn sie jetzt blutete. Onkel Morris sagte, nach dem Abendbrot würde er mit ihr reden, als hätte sie etwas Unanständiges gefragt. Sie gab auf und aß ihre Suppe. Ihr fiel ein, wenn sie in letzter Zeit Rivka fühlte, dann hatte Rivka immer Hunger.
Daniel 2
Das große purpurne Kreuzworträtsel
Daniel war immer ein begeisterter Rater des Kreuzworträtsels der New York Times gewesen. Während seiner Jahre am City College hatte er genüsslich mit seinem Vetter Seymour gewetteifert, wer es schneller löste. Der, der es zuerst heraushatte, rief den anderen an und brüstete sich. Er hatte sich jedoch nie träumen lassen, dass er sich eines Tages unter enormem Druck und mit einem Gefühl drohenden, furchtbaren Versagens Tag und Nacht mit einem gigantischen Kreuzworträtsel abmühen würde.
Natürlich war die Kryptologie – in seinem Fall die Entschlüsselung japanischer Codes – nicht das Gleiche wie das Lösen eines Kreuzworträtsels, doch manchmal fühlte es sich so an, denn alles an dem Gebäude, das sie errichteten, stand zueinander in Beziehung; wenn sie ein Partikelchen entschlüsselten, änderten sich dadurch andere, schon erratene Bausteine und wurden zu Gewissheiten oder Fehlern.
Im Frühjahr, als einige aus seinem Japanischkurs nach Washington abkommandiert wurden, stellte sich Daniel die Frage, was man wohl mit ihm anfangen würde. Er malte sich aus, auf einem Tropeneiland Kriegsgefangene zu verhören. Ob man ihn direkt nach Übersee schickte? Er gehörte zum zweiten Trupp der Dienstverpflichteten. Am College hatte er befriedigende Noten gehabt und sich selten zu Höchstleistungen angestachelt gefühlt. Hier dagegen hatte er Lehrgangskameraden überflügelt, die seit Jahren Japanisch lernten. Er hatte sich nie für dumm gehalten, aber auch nicht für hochbegabt. Sein Vetter Seymour war der Intellektuelle und sein Bruder Haskel der Einser-Student. Nun begegnete er sich selbst mit neuem Respekt vor seiner Intelligenz.
Dann