Vor diesem Hintergrund ist gegen Jürgen Link darauf aufmerksam zu machen, dass auf einen starken Begriff von Charakter in einer liberalen inklusiven Gesellschaft nicht zu verzichten ist, weil ein durch Scham stets neujustierter Charakter Bedingung einer friedfertigen Gesellschaft ist. Gewalt entsteht, wenn der schamgesteuerte Aufruf zur Charakterbildung verpufft und Scham in Schuld verschoben wird, weil man offenbar mit Scham besser als mit Schuld leben kann.26
Schon die Kain-und-Abel-Erzählung geht auf eine Verschränkung von Normativität und Normalität und bezieht sich dabei gerade nicht auf Konventionen oder etwa ästhetische Standards, sondern auf Grundfragen der Moralität, nämlich auf die Grundfrage nach dem Ursprung und der Vermeidung von Gewalt. In Genesis 4 schult die literarische Figur Gott Kains Charakter, provoziert ihn dadurch, dass er sein Opfer, das Opfer des Erstgeborenen, ablehnt, um Kain auf seine problematische, von Neid- und Eifersucht gesteuerte Charakterstruktur aufmerksam zu machen. Dieser weisheitlich coachende Gott plädiert für Selbstbeherrschung und Selbstbeschränkung, sagt an entscheidender Stelle, die Sünde stünde vor der Tür, wenn Kain sich nicht fromm, also gemeinschaftsverträglich oder gemeinschaftstreu verhalte. In Gen 4,7 ist zum ersten Mal von Sünde in der Bibel die Rede, und es wird deutlich gemacht: sie ist beherrschbar, sofern man sich den Basistugenden entsprechend verhält. Kain tut das bekanntlich nicht, sondern wählt die Schuld, um wieder Handlungssouveränität zu erlangen. Er verschiebt Scham in Schuld.
Zwischen einer autonom begründeten Moral im Anschluss an Tugendhat und den biblischen Texten gibt es einen erstaunlichen überlappenden Konsens, denn auch die Meistererzählung aus Gen 4 fordert die Tugenden der Selbstbeherrschung und Sensibilität ein, plädiert darüber hinaus aber für expliziten Ehrverzicht (Stichwort: Erstgeburtsrecht). Dafür motivational zu werben ist das Surplus dieser Texte, anders gewendet: (Religiöse) Hintergrundtheorien können über den überlappenden Konsens hinaus für eine kräftigere, oft einseitige Selbstbeschränkung werben, mehr, als es säkulare Theorien jemals vermögen. Für Anhänger dieser Tradition ist das normal, oder sollte normal sein.
Und noch in einer anderen Hinsicht inszeniert der alte Text Standards, die auch heute noch nicht selbstverständlich sind. Bekanntlich geht der Text weiter nach dem Mord von Kain, der die Schuld attraktiver empfunden hat als die schamgesteuerte Bearbeitung des eigenen Charakters. Die literarische Figur Gott stattet Kain mit dem berüchtigten Kainsmal aus, man darf den Begriff nicht pejorativ lesen. Dieses geistliche Tattoo ist kein Stigma, sondern ein Aggressionsstopper, der Rachespiralen eindämmt. Die gute Botschaft ist eindeutig: Gott macht eine Differenz auf zwischen den Handlungen von Kain und seinem Personsein, das geschont wird. Sehr viele Jahrhunderte später hat ein Mann namens Luther diese Differenz zum Spezifikum seiner Rechtfertigungslehre gemacht, in dieser Meistererzählung hat sie ihren Ort. Wie unerlässlich die Tugenden von Selbstbeherrschung und Sensibilität sind, mag ein kurzer Blick auf aktuelle populistische Strömungen zeigen, die diese normativen Tugenden und damit implizit auch ein inklusives Modell einer liberalen, offenen Gesellschaft und jede Pluralisierung27 strikt ablehnen.
2.4 Normalität nach rückwärts. Leben in Echokammern
Um Identitätsentwürfe nach rückwärts anzubieten, die die von Tugendhat anvisierte affektive Harmonie stören und zerstören, kündigen rechtspopulistische Kritiker die Tugendgefolgschaft auf und verhalten sich strategisch unbeherrscht. Es wird in unterschiedlichen Hitzegraden gestänkert, gepöbelt, beleidigt – gegen Minderheiten, Flüchtlinge, Vertreter*innen liberaler Kulturen. Zivile Verkehrsformen werden absichtlich ausgesetzt und ein hemdsärmeliger Ton angeschlagen, Hässlichkeit und Gemeinheit28 gepflegt. Oft folgt am anderen Tag eine sehr lau vorgetragene Entschuldigung, die unter der Aufmerksamkeitsschwelle der aktuellen Nachrichten verbleibt. Irgendetwas bleibt immer hängen und wird erinnert. Strategisch bedient werden unterschiedliche Ängste: Statusverlustängste, Existenzängste oder Demütigungsängste. Carolin Emcke bemerkt treffend, „Angst und Sorge“ seien häufig nur „rhetorische Tarnkappen“, die „den bloßen Rassismus verdecken“29. Wer Hass pflegt, glaubt – das ist die entscheidende Pointe –, aus der Passivität herauszukommen, glaubt Handlungssouveränität zu erlangen. Mit diesem Gefühl von Souveränität lockt der Rechtspopulismus. Er trifft auf eine Gesellschaft, die auch von ihren Eliten in Fragen der Emotionalität unterversorgt geblieben ist. Um die rechtspopulistische Weltsicht zu normalisieren, geht diese Bewegung medientheoretisch einen inzwischen geradezu klassisch erscheinenden Weg. Sie erobert Echoräume, in denen sich die Bewegung gegenseitig bestätigt. Kommunikationswissenschaftler bezeichnen diesen Effekt als Echokammer. Mit Echokammer wird dabei das Phänomen beschrieben, dass viele Menschen in den sozialen Netzwerken dazu neigen, sich mit Gleichgesinnten zu umgeben und sich dabei gegenseitig in der eigenen Position zu verstärken. Befeuert durch die Echokammer verbreiten sich in fataler Dynamik nicht nur konsensfähige Inhalte, sondern auch Kommentare innerhalb der Netzwerke wie ein Lauffeuer. Wer den Konsens der Gruppe am besten trifft, wird „geteilt“ und „gelikt“ und erhält aus anderen, harmonierenden Kreisen Freundschaftsanfragen. Dadurch entsteht selbst für Angehörige von Minderheiten das Gefühl, einer gesellschaftlich relevanten Mehrheit anzugehören. Soziale Medienplattformen unterstützen diesen Effekt durch Algorithmen, die prioritär Inhalte von Gleichgesinnten anzeigen. Informatiker bezeichnen diesen Effekt als Filterblase. Der moderne Nutzer sozialer Netzwerke befindet sich also in einem bequemen Informationskokon.30 Solche Informationskokons petrifizieren Selbstbilder und immunisieren so gegen Scham. Damit wird eine schamlose Gesellschaft promoviert, die sich um eine liberale Normalität nicht länger schert. Allein solche Tendenzen machen das Nachdenken über normative Normalität unverzichtbar. Eine solche normative Normalität verweigert sich einer Stabilisierung eines Selbstbildes, das sich nicht mehr hinterfragen lässt und eine gruppengemäße In-sich-Verkrümmung, die von Luther als Sünde charakterisierte incurvatio in se ipsum generiert.
Es gilt, sich der Macht eines sich je und je einer normativen Kritik stellenden Normalitätsdiskurses auszusetzen, um zu verhindern, dass eine schamlose Gesellschaft eine kritische Masse von Anhängern erreicht, die diese andere, nichtliberale Gesellschaft mit ihren protonormalistischen Strategien normal finden.
Genau dieser Ambition sind die in diesem Band versammelten Beiträge, die aus einer Diskussion während einer Tagung an der Evangelischen Akademie Loccum hervorgegangen sind, verpflichtet.
3. Orientierung über die Beiträge des Bandes
Die fünf in diesem Band dokumentierten Beiträge verfolgen die in der programmatischen Hinführung formulierte Intention in fünf verschiedenen, für die evangelische Ethik relevanten Kontexten, nämlich für medientheoretische, medizinethische, familiale, sportethische und tierethische Aspekte. Sie verbindet bei dezidiert unterschiedlichen Zugangsweisen zur evangelischen Ehtik die Überzeugung, dass eine Kritik an einem unreflektierten Gebrauch von Normalität gerade nicht in eine Abschaffung der Normalitätsbestimmung mündet. Vielmehr machen sie sich in je eigener Weise dafür stark, die ethische Stabilisierungsleistung der Bestimmung normal nicht zu unterschätzen. Eine Welt ohne Sinn fürs Normale ist eine libertinistisch hoch gefährdete Welt.
Reiner Anselm fragt mit Charles Taylor nach der Bedeutung der naturalen Grundlagen in Fragen der Lebensführung. Einerseits haben technologische Innovationen und gesellschaftliche Dynamiken zu einer Emanzipation von den körperlichen Grenzen beigetragen, andererseits entwickelt sich parallel dazu eine neue Achtsamkeit für den Körper. Die neue Hochschätzung des Körpers reibt sich mit der traditionell im Christentum gepflegten Hochschätzung des Geistlichen, die zu einer Spiritualisierung der Gottesbeziehung und einer Säkularisierung der Welt führten. Mind the gap! Jene von Schleiermacher, Barth und Bonhoeffer gemachten Vorschläge, den gap zu schließen, führen nach Anselm nicht ins Ziel. Neu formatiert, geht es um die Grundfrage von Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft. Die interpretierende Deutungsleistung der empirisch erforschten Wirklichkeitssicht durch transempirische Kategorien wie die Schöpfung muss Veränderung und Konstanz zusammendenken: