Copyright © Claudius Verlag, München 2020
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Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München
Layout: Mario Moths
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2020
ISBN 978-3-532-60072-6
INHALT
Natürlichkeit als schwache Norm in der Medizinethik
Über Vermeidliches und Unvermeidliches
Eine theologisch-ethische Reflexion der Normalitätsdynamik in Fragen von Partnerschaft und Familie
Überlegungen zu einer Körperlichkeits- und Sportethik
Normalität und Normen in der Tierethik
Über Ausgrenzungs- und Integrationspotenziale des Netzes
Einführung
1. Ein Coronavorspiel vorab
Es war im Januar 2016, da titelte Zeit-Online: „>Das neue Normal<: Permanent online, permanent verbunden – für viele ist Handyabstinenz schon heute die Ausnahme.“ Das war kritisch gemeint. Die Sorge der Gastautoren Peter Vorderer und Christoph Klimmt galt damals sozialkulturell riskanten Ersatzfiguren. Sie sorgten sich darum, dass Wissenszugang Wissen, dass Crowd-Befragung Kreativität, dass Big-Data Institution ersetze.1 Bloß kein neues Normal! Auch dieser Tage ist von „Neuer Normalität“ die Rede. Mit ihr verbindet sich auch eine Sorge, aber dieses Mal die Sorge, dass sich gesellschaftliche Kräfte und Mitbürger*innen einer neuen Normalität verweigern und sie sich nicht etablieren kann – mit, so wird vorgegeben, Gefahren für Leib und Leben und mittelfristige Wohlstandsperspektiven. Vor allem Vizekanzler Olaf Scholz annoncierte Mitte April 2020, dass Deutschland bis ins Jahr 2021 mit einer „neuen Normalität“ leben muss: „Was wir jetzt brauchen, ist für lange Zeit eine neue Normalität“, ließ er bündig wissen.2 Neue Normalität als Standard eines neuen Lebensgestaltungsethos! Diese Forderung hatte gleich viele „Väter“. So war im Fernsehen auch von „Jens Spahns neuer Normalität“3 die Rede. Neue Normalität war nicht nur auf Bundesebene unterwegs. Sie gewann auch alsbald Lokalkolorit. „Alltagsmasken sollen in der Region Osnabrück ‚neue Normalität‘ werden“, berichtete die Neue Osnabrücker Zeitung4. Vom Burkaverbot zur Maskenpflicht, das mag ein Wechsel sein. Krisen, so zeigt sich im Jahr 2020, setzen Normalitätsdynamiken der besonderen Art frei. Nicht nur, dass neue Normalitätsstandards beschworen werden, um Kriseneskalationen zu vermeiden. Auf einmal wird eine Bestimmung, die in nicht ganz wenigen wissenschaftlichen Kontexten eher nur mit spitzen Fingern angefasst wird, zur paradigmatischen Figur der Krisenbewältigung. Vorbehalte und Widerstände für ein solidarisches Einschwingen in soziale Enthaltsamkeit der Ausnahmesituation einer Krise sollen im Zeichen einer neuen Normalität eingedämmt werden. Immerhin in Österreich, also dort, wo vermutlich die Renaissance der Figur einer „neuen Normalität“ ihren Ausgang nahm, als Bundeskanzler Kurz Anfang April von „ersten Schritten in Richtung neue Normalität“ sprach5, wurden auch kritische Stimmen laut. Es wurde Mitte April darauf aufmerksam gemacht, dass „Neue Normalität … für Familien Rückfall in die Vergangenheit“ bedeutet.6 Aber auch in der Bundesrepublik Deutschland konkurriert inzwischen neues Normal mit Normal. „Wann wird unser Leben wieder normal?“, fragte bereits Ende März die Brigitte.7 Wenig später spricht der „Sexpodcast zu Ostern … über Coronavirus, Porno und neue Zeiten im Bett“ und fragt: „Sexualität: Corona und Sex – geht das noch?“8
Bemerkenswert ist: Die Ad-hoc-Stellungnahme zur Coronavirus-Pandemie der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, ein Dokument, das die Bundespolitik maßgeblich beeinflusst, verweigert sich einer Adaption der Rede von der neuen Normalität. Es nutzt das Prädikat „normal“ konsequent für einen nach der Krise wieder anzustrebenden gesamtgesellschaftlichen Normalzustand. Es gelte, so kann man da lesen, „Kriterien und Strategien zur allmählichen Rückkehr in die Normalität zu entwickeln“. Aufgabe sei eine „Rückführung in einen gesellschaftlichen Normalzustand … durch passgenaue … Maßnahmen“9.
Was einem bei der Rede von der neuen Normalität irritieren mag, ist ja vor allem dies: Sie ignoriert, dass gesellschaftliche Standards und grundrechtliche Regeln wie Überzeugungen in der Ausnahmesituation der Coronakrise weiter gelten. Die Ausnahmesituation der Krise sistiert eben nicht Normalität so sehr, dass von einer neuen Normalität die Rede sein müsste. Dem ist weiter nachzudenken. Irritierend ist ein Zweites: Verstummt sind jene Stimmen, die in den Vordergrund rückten, dass es normal sei, verschieden zu sein.10 Das Tagblatt legte den Finger sogleich in die Wunde: „Das Virus schadet der Inklusion.“11 Es mag mitten in der Coronakrise noch zu früh sein, semantisch ambitioniert über eine neue Konjunktur der Rede von der Normalität zu räsonieren. Eins macht der öffentliche Austausch über die Coronakrise deutlich. Die Normalitätsvokabel lässt sich nicht so einfach aus der Welt schaffen. Und es ist schon deshalb dringend angezeigt, für einen ebenso kritischen wie durchdachten Gebrauch von Normalität einzutreten. Das ist schon deshalb geboten, weil die Beziehung zwischen Normalität und Normativität aufregend kompliziert