Die unverhoffte Genesung der Schildkröte. Marc Bensch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marc Bensch
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783943709711
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sich zu fangen. Wenn die zwei Good Cop, Bad Cop spielen wollten, sollten sie es tun. Er hatte nicht die ersten Hürden seiner Mission genommen, um so kurz vor dem Zwischenziel wie ein scheues Reh vor dem Gewehr zu erstarren.

      Die Selbstgeißelung war erfolgreich. Er riss sich nicht nur zusammen. Er ging regelrecht in seiner Rolle auf. Beim Sprechen bewegte er sich in seinem Stuhl, um nicht steif zu wirken, seine Ausführungen unterfütterte er mit Gestik und Mimik, er philosophierte über Schall und Klang, er lobte den Verkaufsschlager des Unternehmens, obwohl er ihn für üblen Schrott hielt, und er griff, weil er glaubte, das mache einen lockeren, unbesorgten Eindruck, nach einer bereitgestellten Schale mit Schokoladentäfelchen.

      Er verzog nicht einmal die Mundwinkel, als er beim Kauen feststellte, dass er sich eines mit Marzipan geangelt hatte.

      Eigentlich vertraute Hermann Liebenich der Pressesprecherin und der Personalleiterin vollkommen. Seine Mädels, wie er sie liebevoll und ein wenig chauvinistisch nannte, würden den jungen Mann und die anderen Kandidaten für die vakante Vertretungsstelle einem Stresstest unterziehen, der zeigen würde, ob die Naseweise dem Druck hartnäckiger Journalisten gewachsen wären, einer sensations- und internetklickgeilen Meute, die ein immer distanzierteres Verhältnis zu Wahrheit und Sorgfalt pflegte. Seine Mädels würden sicherstellen, den Job nicht einem zögerlichen Schwächling oder Haderer zu geben, einem Menschenschlag, mit dem Hermann Liebenich nichts anzufangen wusste, der ihn regelrecht aggressiv machte. Es gab für ihn an und für sich also keinerlei Anlass, sich mit dem Bewerbungsprozedere auseinanderzusetzen. Zumal er sich als Vorsitzender der Geschäftsführung und Hauptanteilseigner um existenziellere Dinge zu kümmern hatte.

      Hermann Liebenich, Dr.-Ing. Hermann Liebenich, um ganz genau zu sein, war ein Mann von sechsundsechzig Jahren, der längst nicht daran dachte, dass es nun auch mal genug war, er seine Schuldigkeit getan hatte und bedenkenlos in Rente gehen konnte. Er konnte nicht. Weil es niemandem gab, der in seine Fußstapfen treten konnte. Oder wollte. Sein Vater und sein Großvater hatten das Familienunternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet und gemeinsam am ersten Mikrofon geschraubt, er hatte aus Liebenich Acoustics in den vergangenen drei Jahrzehnten einen Global Player geformt. Und durch Zurücklehnen oder Zurückziehen formte man keinen Global Player, sondern durch Anpassungsfähigkeit und eisernen Willen.

      Man könnte sich Hermann Liebenich hervorragend als Charakterdarsteller auf einer Bühne vorstellen, zum Beispiel in der Rolle des Julius Caesar. Oder in einem Hollywood-Film als Gangster des zwanzigsten Jahrhunderts, ein würdiger Nachfolger Marlon Brandos. Der Boss von Liebenich Acoustics besaß einen Wohlstandsbauch und ein von Furchen durchzogenes Gesicht. Das ließ ihn, anders als sein ergrauter Schopf, aber weniger alt, sondern vielmehr kampferprobt aussehen.

      Das passte. Hermann Liebenich hatte weder Zeit noch Muße, Julius Caesar oder einen Mafioso zu spielen. Er hatte ein Mittelstandsunternehmen zu führen. Er verlangte von jedem, der am Erfolg seiner Firma partizipieren wollte, dieselbe Aufopferungsbereitschaft und Kompromisslosigkeit zum Wohle des Kollektivs. Menschen, die sich ihm in den Weg stellten, egal ob absichtlich oder aus Versehen, mussten damit rechnen, dass er sich vor ihnen aufbaute, dem Begriff Zornesröte eine neue Bedeutung verlieh, seine Augen zu Schlitzen verengte und mit seiner tiefen Stimme polternd Antworten verlangte.

      Solltest du ihm jemals begegnen, was durchaus passieren kann, dann erinnere dich an meine Worte. Schreib sie dir hinter die Ohren. Lass dich nicht von ihm einschüchtern. Bleib standhaft. Antworte ihm mit völliger Ruhe und ohne zu stottern. Sonst verliert er jeglichen Respekt vor dir, sonst nimmt er dich nicht ernst.

      Und das wäre fatal.

      Für den Vormittag der Bewerbungsgespräche hatte Hermann Liebenich ursprünglich geplant, sich eine Strategie zurechtzulegen. Für ein anstehendes Treffen mit politischen Verbündeten und solchen, die es werden sollten, benötigte er einen Schlachtplan, der alle Eventualitäten berücksichtigte. Doch dann waren drei Umstände zusammengekommen, die dafür sorgten, dass er – und das geschah äußerst selten – sich ablenken ließ. Erst hatte er erfahren, dass ein Bürgermeister den Termin kurzfristig abgesagt hatte. Dann war ihm in der Eingangshalle dieser Bewerber über den Weg gelaufen, der ihn, ein Affront erster Güte, nicht gegrüßt, ja nicht einmal wahrgenommen hatte, weil er in eine Plauderei mit der Empfangsdame vertieft gewesen war. Und schließlich hatte an ihm das dumpfe Gefühl genagt, mit dem jungen Mann irgendwann irgendwo schon einmal konfrontiert gewesen zu sein, ohne zu wissen, zu welchem Anlass.

      Stirnrunzelnd hatte er ihm hinterhergeschaut, war – auch das kam äußerst selten vor – inmitten der Halle stehen geblieben und dann in sein Büro zurückgeeilt. Nicht, um sich wieder an die Arbeit zu machen, von der es immer genug gab, sondern um alles stehen und liegen zu lassen.

      Der Boss hatte das Bewerbungsgespräch zunächst mithilfe der versteckten Überwachungskameras und Mikrofone im Konferenzraum von seinem Computer aus verfolgt, war aber ums Verrecken nicht darauf gekommen, woher er diesen Ludwig Mayer kannte, auch nicht mithilfe der kopierten Bewerbungsmappe.

      »Herrgottsakrament«, hatte er geschimpft, verärgert auf seine Schenkel geklopft – und sich aus seinem Chefsessel gehievt.

      Die Personalleiterin und die Pressesprecherin zuckten auf das unerschütterlich selbstsichere Klopfen hin gleichzeitig zusammen. Der Bewerber, der das sah, zuckte nicht. Er ärgerte sich über die Störung seines Flows. Als die Tür aufging, ohne dass jemand »herein« gerufen hatte, wich der Ärger. Der Boss erschien, und im Körper des Mannes, dessentwegen sich Hermann Liebenich herunterbemüht hatte, machte sich eine siedende Hitze breit. Die Hand, die eben noch geschmeidig seine aktuellen Ausführungen dirigiert hatte, begann zu zittern. Er legte sie auf den Tisch und die andere darauf.

      »Herr Dr. Liebenich, ist etwas passiert?«, erkundigte sich die Pressesprecherin und stand auf.

      »Nein, nein, meine Liebe«, antwortete der Eindringling. »Ich hatte nur ein wenig Zeit und dachte mir, ich mache mir ein persönliches Bild von unserem Bewerber.« Der Boss ging um den Tisch herum und streckte seine Hand aus. »Liebenich, angenehm.«

      »Ludwig Mayer«, sagte Sebastian Vogt und hätte um ein Haar Sebastian Vogt gesagt.

      Er musste sich erst daran gewöhnen, Ludwig Mayer genannt zu werden, musste aufpassen, sich auch selbst immer schön als Ludwig Mayer vorzustellen – und bei niemandem so sehr wie bei Hermann Liebenich, dem zu begegnen er an diesem Tag niemals gehofft, niemals erwartet hätte.

      Sebastian Vogt hatte Ludwig gewählt, weil er sich keinen grundsolideren deutschen Vornamen vorstellen konnte, und Mayer, weil es Zehntausende mit diesem Nachnamen gab. Es war nicht sonderlich schwer gewesen, einen Lebenslauf zu fälschen und passende Urkunden zu beschaffen, die seine angebliche Eignung für die Stelle untermauerten. Egal, in welcher Welt man lebte, nichts ging über Kontakte; die einen waren eben glänzend, die anderen schmierig.

      Aber nichts und niemand hätte ihn auf den Moment vorbereiten können, in dem Hermann Liebenich vor ihm stand.

      »Jetzt gilt’s«, riefen Sebastian Vogts innerer Zweifler und der Zornige im Chor.

      Ludwig Mayer stand auf, schnappte nach der ausgestreckten Hand und packte seinen härtesten Händedruck aus. Er sah dem Boss tief in die Augen.

      Alles oder nichts.

      »Schön«, sagte Hermann Liebenich, schüttelte, lächelte, ging weiter. »Ich wollte Sie nicht unterbrechen. Sie waren gerade dabei, etwas auszuführen?«

      Der Boss nahm neben der Personalleiterin Platz, und Sebastian Vogt glaubte zu erkennen, dass die sich fragte, was dieses Spiel solle. Er tat das auch, ließ es sich aber nicht anmerken.

      »Ich war gerade dabei zu skizzieren, worauf wir bei einer möglichen neuen Pressekampagne meiner Ansicht nach den Fokus legen sollten. Völlig aus dem Bauch heraus, versteht sich, ich kenne Ihr Unternehmen schließlich bislang nur aus der Außenperspektive.«

      »Ah ja, sehr interessant«, erwiderte Hermann Liebenich, lehnte sich zurück, nickte, schnellte vor, stützte sich mit den Ellenbogen auf die Tischplatte und beugte seinen Oberkörper nach vorn. »Darauf kommen wir gleich zurück. Aber erlauben Sie mir vorher ein, zwei kurze Fragen?«

      »Selbstverständlich.«