Paul Gram kannte das Spielchen. Er besaß große Freiheiten in der Redaktion, war von allen ungeliebten Wochenend- oder Blattmacherdiensten befreit, bekam nur in äußersten Notfällen Termine aufs Auge gedrückt, musste nicht an den Konferenzen teilnehmen. Im Gegenzug verlangte man von ihm regelmäßig einen Scoop. Einen Kracher, bei dem sich jeder, ob Kollege, Konkurrent oder Leser, fragte, wie dieses Schlitzohr da schon wieder an Informationen gekommen war, die sonst keiner hatte.
Es war nicht so, dass diese Begünstigungen nicht von Zeit zu Zeit infrage gestellt wurden, dass ihn alle mochten und seine Verdienste schätzten. Aber die meisten taten es, und er war froh darüber, dass es vor allem die Entscheidungsträger taten, die er so leidenschaftlich verachtete.
»Also gut, dir kann ich’s ja sagen. Ich bin da an einer ganz heißen Sache dran, aber ich brauche noch ein paar Tage. Es geht um Tarifflucht, Scheinselbstständigkeit, ausgebeutete Mitarbeiter.«
»Geil, wo?«
»Bei uns«, sagte Paul Gram mit ausdrucksloser Miene.
»Haha, sehr witzig«, antwortete der Ressortleiter und konnte es trotzdem nicht vermeiden, bleich zu werden.
»Keine Sorge«, beruhigte ihn sein Gegenüber. »Es geht um etwas anderes. Ich kann noch nicht darüber sprechen, aber es ist groß. Sehr groß.«
Kapitel vier
Matthias Caspar war wie sein Auto: voller sichtbarer und unsichtbarer Makel. Die altersschwache Karre hatte ihre beste Zeit längst hinter sich. Sie zählte dreizehn Jahre, ihr Besitzer dreimal so viel. Am Gefährt knabberte der Rost, am Steuermann der Zweifel. Er wartete noch immer darauf, dass seine beste Zeit endlich begann.
In diesen Samstagmittagsstunden wartete er in seinem Auto. Nicht auf beste oder auch nur bessere Zeiten. Sondern darauf, dass etwas passierte. Das war sein Job. Oder der Teil seines Jobs, der ihn am heftigsten anödete. Erst recht, wenn wie heute einfach nichts passierte. Und er nur dasitzen konnte, ein Hörbuch hören und Pistazien im Akkord essen, die er aus dem viel zu kleinen Loch einer Mammutpackung pulte, die Schale öffnete, die eine Hälfte im Fußraum der Beifahrerseite verschwinden ließ, den Kern in den Mund warf und die zweite Hälfte der Umhüllung zu den anderen bugsierte.
Zu warten kostete Kraft. Egal, ob man auf jemand anderen wartete, eine Zielperson etwa, oder auf sich selbst.
Matthias Caspar sah müde aus. Er sah mittlerweile sogar dann müde aus, wenn er hellwach war. Hinter den riesigen Gläsern seiner altmodischen Brille verkrochen sich winzige Augen, er war chronisch blass, kämmte sich selten und bewegte sich häufig wie in Zeitlupe. Einiges, vor allem die ungeordnete Frisur und das apathische Auftreten, war zwar Maskerade – es gehörte zu seiner Strategie, unterschätzt zu werden, weil es ihm dann einfacher fiel, seine Kontrahenten zu überrumpeln.
Aber das Problem mit Maskeraden ist: Wer sie zu lange aufrechterhält, vergisst sein eigenes Gesicht.
An diesem Tag war Matthias Caspar exakt so müde, wie er aussah. Dick eingepackt in einen Wintermantel saß er hinter dem Lenkrad seines Wagens, mit dem er sich zu Beginn seiner Schicht vier Stunden zuvor an einer strategisch klugen Stelle des Parkplatzes positioniert hatte. Er wollte den Hinterausgang des Wohnkomplexes jederzeit im Blick haben, damit er, sobald etwas passierte, blitzschnell reagieren konnte.
Falls die Zielperson herauskäme zum Beispiel.
Oder falls es nötig wäre, das Handy ans Ohr zu pressen und die Lippen zu bewegen. Damit niemand Verdacht schöpfte, weil er an einem gottverdammten Herbstdepressionstag lethargisch in seinem Auto hockte, während es draußen beständig nieselte und ein nasser Nebel die Stadtlandschaft umhüllte.
Oder falls er dem Kollegen, der den Vordereingang nicht aus den Augen ließ, per Funk Bescheid geben musste, Bescheid geben durfte, dass sich etwas tat – endlich.
Aber nichts Derartiges passierte. Immer noch nicht.
Also starrte Matthias Caspar weiter auf den Hinterausgang, steckte gleichzeitig aber so tief in seinen Erinnerungen, dass er begann, den Erzähler seines Hörbuchs zu missachten. Und aß weiter Pistazien.
Die, so hatte er im Internet gelesen, seien gesund und würden beim Abnehmen helfen. Das war zwar nicht der erste Grund, warum er sie bei Observationen wie dieser manisch in sich hineinschaufelte – tatsächlich half es gegen das völlige Wegdämmern und er brauchte das Gefühl, etwas zu tun zu haben, wenn er stundenlang nichts Produktives tat. Aber es war eine angenehme Vorstellung, wenn diese eine Tat seinem Körper zugutekam. Denn seit er aufgehört hatte, regelmäßig Sport zu treiben, also seit dem Ende seiner Laufbahn als Polizist vor drei Jahren, war er zum eigenen Entsetzen mehr und mehr in die Breite gegangen, ein Vorgang, dem er hilf- und tatenlos zusah. Hilflos, weil er neuerdings tatenlos blieb. Und tatenlos, weil ihm alle früheren Versuche, dagegen anzukämpfen, bald sinnlos vorgekommen waren und ihm nun der Wille zur kontinuierlichen Anstrengung fehlte.
Es war ein schwacher Trost, dass jetzt, anders als früher, sein riesiger Kopf wenigstens nicht mehr zu groß für seinen Torso war. Seine Problemzonen hatten sich lediglich nach unten verlagert. Dorthin, wo alte Muskeln verkümmerten und sich neues Fett breitmachte.
Sein neues Leben, zurück in der alten Heimat, fern der missglückten Karriere, hatte er sich anders vorgestellt.
Als Kind hatte Matthias Caspar zunächst Rennfahrer werden wollen. Und dann, da war er schon etwas älter, das Gegenteil seines Vaters. Er hätte sich vielleicht damit anfreunden können, wie der Großvater zu werden, aber nicht wie der Vater. Dummerweise hätte er nicht wie sein Großvater werden können, ohne auch ein bisschen wie sein Vater zu sein.
Die Alternative offenbarte sich ihm an einem brüllend heißen Ferientag im August. Matthias, der es kaum erwarten konnte, vierzehn zu werden, war mit zwei Internatsfreunden mit dem Fahrrad auf dem Weg ins Freibad, dem einzigen Ort, an dem sich die Hitze ertragen ließ. Da kamen ihnen kurz vor dem Ziel zwei Polizeiautos mit Blaulicht und Sirene entgegen.
»Los, hinterher«, rief Matthias und machte kehrt. Er raste den eben bezwungenen Anstieg wieder hinab. Schneller als seine mühevoll hinterherstrampelnden Kumpels kam er am Tatort an, einer überfallenen Bank, an der es eigentlich nichts mehr zu sehen gab, nicht für ihn und erst recht nicht für die japsenden Kameraden. Der Täter war mit der Beute geflohen, sie schnappten ihn ein paar Tage später. Doch für Matthias zählte nur die Erinnerung an sein Herzklopfen beim Verfolgen des Polizeiwagens, die Erinnerung an den Fahrtwind auf seinem verschwitzten, nackten Oberkörper. Niemals zuvor hatte er sich so wach und so berauscht gefühlt – und Räusche hatte es in diesen Ferien durchaus gegeben, sofern es sich einrichten ließ, bei einem Freund zu übernachten.
Dieses Gefühl blieb. Von diesem Zeitpunkt an stand für ihn fest, was aus ihm werden sollte.
In einem Moment höchster Dramatik der Hörbuch-Geschichte, die Matthias Caspar nicht hörte, weil er woanders war, legte der Erzähler alles in die Waagschale, was seine Stimme hergab – und drang durch. Matthias Caspar kehrte in die Gegenwart zurück. Der Regen draußen hatte zugenommen. Ein paar Kinder mit überdimensionierten Schulranzen huschten an ihm vorbei und sprangen – mit Anlauf – in Pfützen. Wenig später sah er ein Großmütterchen im Regenponcho, wie es mit gekrümmtem Rücken zwei Einkaufstüten nach Hause schleppte. Und schon zum zweiten Mal während seiner Observation geriet ein Typ im Jogginganzug in sein Blickfeld, der sich zum Rauchen an die Briefkästen lehnte und mit geschlossenen Augen inhalierte. Die Zielperson aber zeigte sich noch immer nicht.
Seinen Vorsatz, Polizist zu werden, hatte er zunächst für sich behalten. Erst Jahre später erzählte er, aus einer Laune heraus und weil er ihn ärgern wollte, seinem Vater davon.
»Du willst Polizist werden? Dass ich nicht lache!«, höhnte der.
Der Verhöhnte aber ließ sich nicht von seinem Weg abbringen. Auch nicht von seinem Großvater, der ihn auf sanftere Weise zu überzeugen versuchte, einem Einstieg ins Familienunternehmen doch eine faire Chance zu geben und die Tradition fortzuführen.