Die unverhoffte Genesung der Schildkröte. Marc Bensch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marc Bensch
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783943709711
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»Sie dürfen es sich gern ausleihen.«

      »Danke«, flüsterte er, drückte das Buch an seine Brust und verschwand in Richtung Hinterausgang.

      Konstantin von Kornweg trat hinaus in die Seitengasse, in der normalerweise sein Wagen stand, lief aber nicht nach rechts zu seinem Stellplatz, sondern nach links. Den Hut zog er sich tief ins Gesicht.

      Natürlich gab es einen Grund für sein Verhalten. Die ungewöhnliche Bitte um das Buch, der ungewohnte Heimweg und das zermürbende Gefühl der Bedrücktheit, das ihn malträtierte, hingen einzig und allein mit dem ganz und gar unvorhersehbaren Ereignis des Morgens zusammen. Es war auf halbem Weg in die Firma geschehen. Sein Wagen hatte mit einem Mal zu ruckeln begonnen, stärker und regelmäßiger noch als in den Tagen zuvor. An denen hatte Konstantin von Kornweg das Problem samt der höhnisch funkelnden Warnleuchte aus Furcht vor den Konsequenzen noch erfolgreich ignoriert. An diesem Morgen hatte sich das Problem nicht mehr ignorieren lassen, weil zum Ruckeln eine starke Rauchentwicklung dazugekommen war. Er rollte in Schrittgeschwindigkeit dahin und krallte seine Hände am Steuer fest – bis am Straßenrand eine Werkstatt auftauchte und er an einen Gnadenakt des Schicksals glaubte.

      Die Hoffnung freilich, er habe Glück im Unglück gehabt, erstarb rasch. In der Werkstatt saß er zitternd und verärgert über die Umstände und über das Zittern in einem winzigen Warteraum, leerte einen Becher mit labbrigem Kaffee, hielt sich die aufgeblätterte Tageszeitung vom Vortag vors Gesicht, las aber keine Zeile, sondern richtete seine alleinige Aufmerksamkeit auf die Geräusche in seiner Umgebung. Schlagschrauber schnurrten, Hebebühnen surrten, Motorhauben knallten, Mechaniker lärmten. Sie warfen sich derbe Sprüche an den Kopf und lachten.

      Einer von ihnen, ein Meister Mitte vierzig mit Schmerbauch im übergroßen Blaumann, kam schließlich in den Warteraum.

      »Herr von Kornweg?«, fragte er, damit sein Kunde die Zeitung zusammenfalten und ihm zuhören möge. Der Mechaniker wischte sich die öligen Finger an einem Tuch ab, das vor langer Zeit einmal weiß gewesen war, und befreite mit dem Arm seine Stirn vom Schweiß.

      Konstantin von Kornweg blickte auf, ohne zu antworten. Der Meister nahm nur dieses irritierende Lächeln wahr, das ihm schon bei der Auftragsannahme aufgefallen war.

      »Also, es ist folgendermaßen: Ihre Einspritzpumpe ist defekt. Da lässt sich auf die Schnelle nichts machen.«

      Konstantin von Kornweg blieb stumm. Und lächelte.

      »Ist Ihnen denn die Warnleuchte nicht aufgefallen? Wenn Sie sofort zu uns gekommen wären, hätte ich Ihnen vielleicht einfacher helfen können. Jetzt werden wir an einem Austausch nicht vorbeikommen. Ihnen ist klar, dass Sie das mindestens tausend Euro kosten wird, möglicherweise auch doppelt so viel?«

      Konstantin von Kornweg schaute zu Boden. Und lächelte.

      »Finden Sie das lustig? Finden Sie mich lustig?«

      Konstantin von Kornweg schüttelte den Kopf. Und lächelte. »Tun Sie, was nötig ist. Und machen Sie sich bitte keine Gedanken um das«, sagte er und zeigte auf sein Gesicht. »Eine lange Geschichte. Hat nichts mit Ihnen zu tun.«

      Er war es so müde, sich zu erklären.

      Die Reaktionen anderer auf Konstantin von Kornwegs Problem ähnelten sich häufig.

      »Was gibt’s denn da zu grinsen?« Diesen Spruch hörte er immer wieder.

      Fast jeder freute sich über ein Lächeln. Fast jeder lächelte zurück. Zunächst. Irgendwann schlug die Freude in Verwirrung um, weil der Fremde nicht aufhörte zu lächeln. Weil dieses beständige Lächeln Zweifel an der Freundlichkeit des Unbekannten hervorrief.

      Lächelte der etwa gar nicht, sondern lachte? Lachte einen aus, wegen eines gigantischen Popels im Gesicht oder aus irgendeinem anderen Grund?

      Wenn Konstantin von Kornweg Glück hatte, ignorierten ihn die Leute nach einer gewissen Zeit.

      Wenn er Pech hatte, beschimpften sie ihn.

      Wenn er großes Pech hatte, wurden sie handgreiflich.

      Er gab sein Bestes, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen. Er gab sein Bestes, unsichtbar zu sein.

      Konstantin von Kornweg lebte seit achtzehn Jahren unter einer Glocke. Drei Wochen nach dem rauschenden Fest seines fünfundzwanzigsten Geburtstags war er wild entschlossen in einen Squash-Court marschiert, in das Finale eines Ranglistenturniers, in das er es dank eines fabelhaften Laufs geschafft hatte, der ihm selbst unerklärlich war. Mitte des zweiten Satzes war er, komfortabel in Führung liegend, gepackt von schlagartig auftretenden heftigen Kopfschmerzen und von Schwindel, in sich zusammengesackt.

      »Schlaganfälle kommen auch bei kerngesunden jungen Menschen wie Ihnen häufiger vor, als man gemeinhin annimmt«, erklärte ihm ein Neurologe hinterher und versuchte ihn zu beruhigen. »Nach der nötigen Reha kommen Sie sicher wieder vollständig auf die Beine. Sofern es keine weiteren unvorhersehbaren Ereignisse gibt.«

      Zu dem, was sie Fazialisparese nannten, hatten die Spezialisten wenig zu sagen, nur dass ihnen eine solche Art der Gesichtslähmung noch nie untergekommen sei. Dass sie allem widerspreche, was man über den menschlichen Körper wisse. Dass die Mundwinkel, wenn überhaupt, auf einer Seite hängen müssten. Nicht wie bei ihm permanent auf beiden Seiten nach oben gerichtet sein.

      »Das dürfte es eigentlich gar nicht geben. Aber sicher handelt es sich nur um ein vorübergehendes Phänomen«, prognostizierte sein Neurologe. »Das legt sich wieder.«

      Eine Erklärung für das vorübergehende Phänomen und warum es sich nicht legte, konnte er auch nach achtzehn Jahren nicht anbieten, eine Therapie genauso wenig. »Mit beschädigten Nerven ist das nun mal so eine Sache. Die regenerieren sich nicht ohne Weiteres, die lassen sich nicht stimulieren«, schwadronierte er schulterzuckend und wischte seine früheren Aussagen weg. Und keiner der anderen Ärzte, bei denen sich Konstantin von Kornweg vorstellte, widersprach dem Kollegen.

      Dabei gab es durchaus Therapieansätze, heftig umstrittene allerdings, deren Effekte nicht ausreichend belegt waren, doch je mehr Schulmediziner vor ihnen warnten, desto attraktiver wirkten sie auf Konstantin von Kornweg. Aber seine Krankenkasse sah diese Art der Behandlung durch seine Police nicht abgedeckt.

      So blieb dem Buchhalter nur, zu sparen und zu warten und zu hoffen und jedes Jahr im Winter für drei Wochen in ein südliches Land zu flüchten, in dem Menschen, die beständig lächelten, nicht so sehr auffielen und schon gar keine ablehnenden Reaktionen hervorriefen. In seiner natürlichen Umgebung ging er, so gut es ging, allem und jedem aus dem Weg.

      Ähnlich wie ich dich durch diese Geschichte zu navigieren gedenke – behutsam, einen Schritt nach dem anderen – lässt er sich von einer unerschütterlichen Devise leiten: Meide alles, worüber du keine Kontrolle hast.

      Die Fahrt von der Werkstatt ins Büro mit einem Taxi, dessen Fahrer unentwegt über andere Verkehrsteilnehmer grummelte und Konstantin von Kornweg nach einiger Zeit skeptisch durch den Rückspiegel beäugte, hatte ihn größte Überwindung gekostet. Er war nur eingestiegen, weil ihm in diesem Moment keine bessere Option eingefallen war. Sich zum Feierabend erneut eines zu bestellen, kam überhaupt nicht infrage.

      Ebenso wenig wollte er jemanden aus der Firma behelligen, am allerwenigsten seine Schwester.

      Und so gelangte Konstantin von Kornweg, so absurd das angesichts seiner Lebensphilosophie erscheinen mochte, zu dem Entschluss, es bliebe ihm nur die Fahrt mit der Straßenbahn. Eine Fahrt, die einen probaten Schutzschild erforderlich machte: das Buch seiner Sekretärin, über dessen Inhalt doch zu lächeln erlaubt sein musste.

      Die Haltestelle lag nur einen Katzensprung vom Firmensitz im Gewerbegebiet entfernt. In die Innenstadt aber tuckerte die Tram fünfundzwanzig quälende Minuten lang. Zu seinem Glück fand er einen Platz ganz hinten im Wagen, mit dem Rücken zu fast allen Mitfahrern. Das beruhigte sein trampelndes Herz. Vom Hauptbahnhof aus waren es noch einmal zehn Minuten zu Fuß zu seiner Kellerkneipe, in der er, endlich angekommen, durchatmete.

      Sein Thekenplatz ganz links ganz hinten an der U-förmigen Bar war frei, darauf konnte er sich