Als der Rotgewandete nach Zeitüberzug endlich von der Bühne weg war, schöpfte ich neue Hoffnung. Eine gemischte Truppe betrat nun die Bretter, die für sie nie die Welt bedeuten würde, denn sie schaffte nicht mal eine ordentliche Aufstellung. Die Großen standen vorn, dahinter versteckt ein paar Kleinere. Ein unordentlicher Haufen in Schwarz, die Frauen mit orangegelben Schals. Ihre Liedauswahl enttäuschte schon nach den ersten Zeilen. „Mein Mund, der singet“ wollte ich nicht hören. Zum ersten Mal bedauerte ich, dass hier eine Fernbedienung nicht funktioniert. Sonst wäre ich auf fast forward gegangen, 16-fache Geschwindigkeit. Wie sich herausstellte, war das noch zu wenig, next wäre sinnvoller gewesen. So hätte ich mir die Qual vier weiterer falsch gesungener Lieder erspart. Der Chor-Leiter erkannte das Dilemma auch und stoppte sogar während eines Werkes seine Schäfchen. Vermutlich dirigierte er sie auch mit Blicken. Doch diese kamen nicht an, denn der Hauptübeltäter, eine kleine Mittfünfzigerin, versteckte sich gekonnt hinter dem Liedtextordner. So sang sie weiter viel zu laut, zu hoch und zu schief. Ich wünschte mir die Taste mit dem durchgestrichenen Lautsprecher her. Dieser Chor war nur taub zu ertragen …
Endlich war es ausgestanden. Die Frauen und Männer trauten sich kaum, ins Publikum zu schauen, das diese magere Leistung auch nur mit spärlichem Applaus bedachte. Nur eine schien vollauf mit sich zufrieden, Sie können sich denken, wer das wohl war.
Die Bühne füllte sich erneut. Ungefähr 20 gestandene Männer bevölkerten nun das Halbrund. Schon ihr Anblick unterstrich ihre Qualität. Durchweg dunkelgraue Anzüge, weinrote Hemden mit silbernem Schlips. Der Sprecher erklärte mit Witz die Vereinsstrukturen, der Abend begann, lockerer zu werden. Er erzählte, dass nächstes Jahr das 175-jährige Jubiläum anstehen würde. Einigen Herren sah man dieses stolze Alter nicht an, einigen glaubte ich sofort. Dann wurde noch die sogenannte „Frauenquote“ vorgestellt, die Chorleiterin – eine attraktive Brünette. Die in der ersten Reihe strengten sich nun besonders an. „Herbei, oh ihr Gläubigen“ war der Auftakt und mich überzog sofort eine Gänsehaut ob der tiefen Stimmen und dem starken satten Klang, den sie verteilten.
Genau! So hatte ich mir das vorgestellt, danke Jungs. Ich atmete durch, entspannte ein wenig und im Saal wurde es ganz still. Die folgenden Stücke „Gloria, Gloria, Gott in der Höh“, „’s Raachermannl“ und „Jubilate – Hört die Weihnachtsglocken klingen“ genoss ich noch, war ganz dabei und ließ meine Gedanken ziehen. Es folgte stürmischer Applaus und die Herrschaften bemühten sich zum Ausgang.
Inständig hoffte ich, der Abend sei doch noch gerettet, aber dann betrat der nächste Dorf-Singe-Clan die Stätte der Aufmerksamkeit. Grundfarbe der Anzüge war schwarz, gelbe Tücher für die Damen, orange Krawatten für die Herren. Die Aufstellung gelang so einigermaßen. Immerhin sangen sie die ersten geläufigeren Weihnachtslieder: „Alle Jahre wieder“ und „Leise rieselt der Schnee“. Das passte, war in Ordnung, weder besonders gut, noch besonders schlecht. Etwas lustig empfand ich das „Carillon de Vendome“. Das Programm wies es als Italienisch aus, es klang eher nach sächsischem Französisch. Das stimmte mich wieder heiter und lies mich auch noch ein Stück Wagners ertragen: „Weihnachten is, stille Nacht“. Dann waren sie wirklich still, fassten den mageren Beifall ab und trotteten davon. Auf zur letzten Runde, dachte ich mir und seufzte leise. Die Bühne füllte sich abermals und ward nun derart vollgestellt, dass sich mein Spott in Anerkennung wandelte. Der „Seniorenchor“ hielt Wort, es war keiner unter 60 Jahren dabei. Von den Farben her präsentierten sich die 50 Leute in schwarzen Hosen oder Röcken, weinroten Oberteilen mit (Sie ahnen es schon) gelborangen Schals für die Damen und weißen Hemden mit rotsilbernen Schlipsen für die Herren. Ich fragte mich die ganze Zeit, ob dieses textile Etwas um die Hälse Zufall ist (vielleicht ein Sonderangebot?) oder ein Erkennungsmerkmal: „Bitte lassen Sie mich durch, ich bin Chormitglied!“
Nun, die alten Leutchen sangen ganz passabel „Süßer die Glocken nie klingen“, „Vom Himmel hoch“ und „Oh Bethlehem, du kleine Stadt“. Es macht schon etwas aus, ob da nur zwölf Sänger stehen, von denen drei verkehrt unterwegs sind, oder viermal so viel, von denen man keine Ausrutscher hört. Die Senioren hatten meinen vollsten Respekt, der Abend war doch nicht ganz aus dem Ruder gelaufen. Gemeinsam stimmten wir noch das beliebte „Oh du fröhliche“ an, was alle Zweifler und Kritiker etwas versöhnte. Dann war alles vorbei, orange Nelken (Hilfe!) wurden verteilt und alles erhob sich von den Holzstühlen. Ich warf einen kleinen Geldbetrag in die überdimensionale Spendenbox, zog meine Wintersachen an und begab mich hinaus ins Dunkel.
Hannelore Crostewitz
So sei es
Horch in die Nacht
In die stille, die hohe
Derentwegen halt ein
Und – werd bedacht
Horch in den Tag
In den geschäftigen, lauten
Um den scheinbar alles sich dreht
Horch tief in ihn hinein
Und – horch ihn aus
Horch in dich selbst
In dein inneres Gespür
Sinnier und erkenn
Den Tag, die Nacht, die Freuden hier
Die reich leise weiter
Von Tür zu Tür
An der Ecke
Abseits vom lauten Getümmel
Weihnachtstrubel Hinterherhetzender
Gehüllt in Glühweinduft und Mandelaroma
Steht er –
Der Mann
An der Ecke
Verliert sich, nahe am Bauzaun
Die Grube an den gläsernen Neubau
Gleich dem Leben, das außer Sicht geraten
Abgespannt –
Der Mann
An der Ecke
Geht doch seinen Geschäften nach
Schwarz auf weiß wechseln
Zeitung und Besitzer ab und an den Platz
Falls jemand innehält –
Beim Mann
An der Ecke
Eines Tages ist er nicht mehr da.
So steht und rückt ins Licht die Frage:
Wer sucht? Weiß? Wohin
Und warum sich verlor
Das Bild vom Mann
An der Ecke?
Gewissensbisse
„Am liebsten würde ich nach Chemnitz fahren, heute ist doch Bergparade“, drängelte Anita und warf ihm einen ihrer unwiderstehlichen Blicke zu. Sie wusste genau, dass sie nicht lange bitten musste, aber sie