Als ich Super Mario Land 2 wähle, bin ich ganz im Früher versunken. Diesmal ohne die genervten Zwischenrufe meiner Schwester, blende auch die Halle um mich herum aus. Bekomme nur noch kurz mit, wie der Typ neben mir die PS2 startet, Kopfhörer überstülpt und den kleinen Monitor vor sich fixiert.
Die Fingergriffe sind erst vorsichtig, dann geübt. Ich weiß genau, wann ich springen muss, was ich bei welchem Endgegner tun muss, um ihn sofort besiegen zu können. Kann genug Extraleben sammeln, um zwischendurch ein paar Mal draufzugehen. Die Unterwasserlevel waren schon immer am schwierigsten, den Fischen auszuweichen und nicht sofort zu schrumpfen. Aber ich komme gut durch. Und die Zeit verfliegt. Einmal schaue ich mich in der Halle um und sehe einige, die nur noch die großen Bildschirme am Rand und vorne beobachten, weil sie selbst schon raus sind. Mit Super Mario Land 2 habe ich ein gutes Spiel gewählt.
Plötzlich werde ich mittendrin von einer Sirene gestört. Ich schalte auf Pause und sehe auf: Mein Name steht auf dem großen Bildschirm, mit sechs anderen. Wir sind die letzten. Ich spiele weiter, sterbe vor lauter Druck sofort, danach ein zweites Mal. »Reiß dich zusammen«, flüstere ich mir zu, bevor ich einen neuen Versuch starte. Nur noch fünf Namen. Und ausgerechnet jetzt habe ich alle Welten durch und mache in Marios Schloss weiter. Aber es läuft. Dann folgt der Endboss, sitzt dort auf seinem Thron, genauso wie damals. Noch vier Namen. Ich springe auf meinen Gegner, er hält inne, blinkt, trifft mich danach, und ich schrumpfe. Jetzt alles oder nichts. Kann ausweichen. Springe und treffe ihn ein zweites Mal. Dann ein drittes Mal. Er läuft weg, ich bekomme eine Möhre, Flügel, und renne hinterher. Auch er kann nun fliegen. Diesmal springe ich fast dreimal hintereinander auf ihn, ohne Schaden zu nehmen. Ein letztes Mal, er kann nun schießen. Ich schiele kurz auf die Anzeigetafel vorne: Noch drei Namen. Drücke kurz auf Pause, um erneut durchzuatmen. Dann geht es los, erst springe ich auf ihn, wieder blinkt er auf, laufe auf die andere Seite und weiche zu spät aus. Werde kleiner. Dann treffe ich ihn erneut auf dem Kopf. Einmal noch, die Sirene geht los, ich erschrecke, sterbe: Egal. Mein Name steht dort oben, der andere ist in seinem Spiel vor mir gestorben.
Crocs Stimme dröhnt durch die Halle. »Cat und Boy231 stehen im Finale. Kommt nach vorne.« Ich stehe langsam auf, suche meinen Gegner: Ein Mann um die vierzig steht auf, sieht mich an, grinst und schlendert gemächlich zur Bühne. Ich folge ihm, versuche, genauso locker zu wirken, dabei zerreißt es mich innerlich. Ich fühle mich alt und müde und will eigentlich nur noch schlafen.
Boy231 und ich verschwinden kurz hinter der Bühne, um unsere Anzüge anzuziehen, setzen uns dann auf die Liegen. Die Zuschauer stimmen ab, welches Spiel wir spielen: Bomberman. Im ersten Moment freue ich mich, da ich das selbst oft genug gezockt habe, aber als ich das Grinsen meines Gegners sehe, verschwindet meine Freude. Das wird ein harter Battle.
Setzen unsere Helme auf und die Realität verschwimmt. Crocs Stimme nur noch über Kopfhörer. Dann beginnt die erste Runde. In 3D renne ich vor die viereckigen Steine, lege meine Bomben und verstecke mich, bevor ich die nächsten zünden kann. Das Labyrinth wird freier, ich kann die Schritte meines Gegners hören, lege eine Bombe und renne. Kurz bevor sie hochgeht, verschwinde ich um die Ecke. Eine zweite Bombe geht hoch, direkt neben mir. Dann noch eine: Sein erster »Win«. Mein Herz rast, eine kleine Anzeige in der Ecke zeigt mir, dass sie Mittel in mein Blut spritzen. Jetzt nicht, denke ich, reiße das Kabel raus, das meinen Anzug mit der Liege verbindet. Will keine Beruhigungsmittel, nichts, was mich vernebeln könnte. Ein paar Bomben und Tode später liegen wir im Gleichstand. So geht es hin und her, bis Croc durch die Kopfhörer ruft: »Letzte Runde. Jetzt entscheidet sich, wer gewinnt.« Ich werde unruhig, die Angst wird größer.
Ich fluche, ein bisschen blöd, dieses Spiel für einen Battle zu nehmen, wenn es immer gleich abläuft. Trotzdem konzentriere ich mich auf die Bomben, auf Boy231. Kalter Schweiß fließt mir an den Schläfen und zwischen den Brüsten hinunter, mein Herz pocht so laut, dass ich glaube, alle in der Halle könnten es hören. Mein Blick verschwimmt, ich blinzle, um das Labyrinth richtig sehen zu können. Mir wird übel, und in meiner Brust schmerzt es, doch ich lege weiter Bomben. Mein Gegner stirbt. Danach ich. Der nächste Tod entscheidet. Ich lege eine Bombe, der Schmerz wird unerträglich. Ich greife mit der Hand auf Herzhöhe, verstecke mich gleichzeitig hinter einer Mauer. Höre noch, wie die Bombe hochgeht – und mein Gegner mit ihr: sich einfach ins Nichts auflöst. Jemand reißt mir den Helm vom Kopf, Leute applaudieren von weit her. Ich starre weiter in die virtuelle Welt, die schon nicht mehr da ist, sehe nur die drei Buchstaben meines Nicknames riesig auf allen Monitoren, aber kann sie nicht mehr deuten. Eine Hand nimmt meine, zieht mich von der Liege, die andere ruht immer noch auf meiner Brust. Ein Geräusch, als ob etwas reißt. Ich kann es nicht hören, nur spüren. Der Boden unter mir gibt nach – oder bin ich es, die nachgibt? Alles wird leicht, ich falle.
*
»Hallo Mama. Ich bin’s.«
»Miriam. Dass du anrufst!« Kann mir lebhaft vorstellen, wie meine Mutter jetzt ins Wohnzimmer läuft, meinem Vater mit Fuchtelbewegungen deutlich zu machen versucht, wer am anderen Ende der Leitung ist – und kläglich scheitert.
»Also erzähl, wie geht’s dir?« Kein rauer Ton, keine Frage, warum ich so lange nicht angerufen hab, mich nicht gemeldet hab. Keine Vorwürfe. Nur ehrliches Interesse. Ich antworte nicht, schlucke, muss mich kurz fangen. »Ich wollte euch besuchen kommen.«
»Ja, gern. Wann kommst du?«
»Jetzt?«
»Ich setz schon mal Kaffee auf.«
»Und sag mal, steht die alte Konsole noch auf dem Dachboden?«
Nur noch das Tuten im Hörer. Und ich nehme die nächste Bahn. Und danach vielleicht weiter hoch zur Küste. Oder gen Süden. Oder mal wieder zu den echten Greifarmautomaten, bei denen der Rost nicht nur virtuell ist.
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Butterfly
Christian Günther
Level 1
Ein Rudel Wölfe fegt durchs Unterholz, wirbelt eine Wolke aus grauem Laub auf. Ihm folgt ein Krieger mit Haar so schwarz wie Pech, zwei Schwerter auf dem Rücken, purpurne Bänder an Armen und Beinen. Die Augen blutrot und orange, leuchtend im Aschewald.
Butterfly Wozniak war ein ganz normales Mädchen. Mit zerbrochenen Träumen in einer dunklen Stadt. Ein Engel mit gestutzten Flügeln. Cinderella, die auch den zweiten Schuh verloren hat und nun barfuß durch ihr Leben geht. Zumindest sah sie sich selbst so.
Hätte sie an diesem Morgen gewusst, dass Danny tot war, wäre sie gar nicht zur Arbeit gegangen. So aber schlich sie durch Dunstschwaden, neben sich den Lärm des Verkehrs. Ihr Gesicht kränklich blass im surrenden Schein der Leuchtfassaden. Pfützen, aufgeplatzte Müllsäcke. Mechanisch blieb sie vor dem abgenutzten Automaten stehen, der ihr jeden Morgen ihren kochend heißen Crema in einen Plastikbecher spuckte. Dazu fiel ein in Folie verpackter Glückskeks aus dem Ausgabeschacht, den sie in die Tasche ihrer Jacke stopfte, ohne darüber nachzudenken. Ein dröhnender Müllwagen näherte sich, sprühte einen Nebel aus Reinigungsmitteln über den Gehweg, der sich sofort in weißen Schlieren auf den Boden legte und mit den öligen Pfützen mischte. Butterfly rief dem automatischen Wagen einen halbherzigen Fluch hinterher und wischte über ihr lilafarbenes Regencape. Zum Glück war sie vorbereitet. Und um sich aufzuregen, war sie sowieso zu müde.
Die trübe Sonne versteckte sich hinter den Wolken, als wollte sie nicht mehr auf diese hässliche Stadt scheinen, die sich täglich dreckiger und kaputter aus der Dunkelheit schälte. Butterflys Nacht war kurz gewesen, der frühe Morgen war kalt. Frühschicht. Wahrscheinlich die Spätschicht als Bonusrunde dazu, schließlich hatte Danny alle anderen Bedienungen schon gefeuert. Ein blauhaariger Typ saß auf einem Plastikstuhl mitten auf dem Bürgersteig, das Gesicht rot im Widerschein