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»Komm schon. Du hast doch früher auch immer rauf und runter gezockt.«
Meine Schwester sieht mich kopfschüttelnd an. Bei ihrem vorwurfsvollen Blick merke ich erst, wie sehr sie unserer Mutter ähnelt. »Vergiss es, Miriam. Ich mach bei deinen komischen Sachen nicht mit.«
»Das sind keine komischen Sachen.«
Sarah schüttelt wieder den Kopf, sieht mich traurig an, fast schon mitleidig, und ich ertrage es kaum. Aber an wen soll ich mich sonst wenden? Meine Freunde habe ich aus den Augen verloren, mit der Zeit wurden es immer weniger Anrufe, weniger Nachrichten, ab und zu mal ein Like, ein Kommentar unter einem Bild, und dann nur noch virtuelle Leichen, die man nicht löschen will, weil man mal eine Verbindung zueinander hatte. Und eigentlich ist es nur ein Warten darauf, dass sie einen zuerst aus der Liste löschen, aber niemand traut sich, weil die scheinbare Verpflichtung siegt. Schließlich war es mal Freundschaft, auch wenn man sich schon lange nichts mehr zu sagen hat.
»Hast du eigentlich endlich wieder mit Mama und Papa geredet?«
Diesmal bin ich es, die den Kopf schüttelt. Sarah spricht ein Thema an, das ich auf keinen Fall weiter vertiefen will. Ich trau mich auch nicht, zu fragen, wie es ihnen geht.
»Miriam.« Ihr Vorwurf hängt im Raum und würde sich nicht mal durch einen Turboventilator vertreiben lassen.
»Bist du jetzt dabei oder nicht?«
»Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder, keine Zeit für deine Spielchen.«
»Das ist deine Ausrede für alles.« Ich stehe auf. Warum noch länger meine Zeit vergeuden?
»Jetzt warte.« Ich zögere. »Wie läuft es denn gerade so bei dir? Schon einen neuen Job in Aussicht? Du wolltest doch gerne noch im zweiten Anlauf studieren. Was ist damit?«
»Das war vor sieben Jahren.« Oder noch länger her, füge ich in Gedanken hinzu. »Grüß die Kinder.« Ich gehe zur Tür und erwarte nicht, dass sie mir folgt. Erwarte nicht, dass sie den Kindern von dem nächtlichen Besuch erzählt, geschweige denn sie von der unbekannten Tante grüßt, die nur alle paar Monate mal vorbeikommt.
Ich laufe an den kleinen Häuschen mit ihren perfekten Gärten vorbei, in denen das Spielzeug vom Tage liegt, bis es irgendwann verfault, der Rasen welkt und es nur noch eine einsame Erinnerung an eine längst vergangene Zeit ist. Vorbei an dunklen Fenstern, weil hier alle schon schlafen. Oder mit matten Lichtern ganz leise im Wohnzimmer sitzen oder in den Schlafzimmern und lesen, damit die Kinder nicht aufwachen. Vielleicht hier und da noch eine liegen gelassene Arbeit am Schreibtisch nacharbeiten, bis das schlechte Gewissen ruft, man sich zum Partner ins Bett legt und trotzdem an die Arbeit denkt. Sex als Ausgleich. Wilder, wenn die Kinder nicht da sind, und irgendwann nur noch als Routine. Leidenschaft vorgaukeln, Lebendigkeit. Was unterscheidet mich von ihnen, wenn wir alle nur nach dem Falschen streben, das gar nicht wirklich existiert?
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Croc sieht an mir vorbei, als ich die Woche darauf wieder vor ihm stehe. »Du brauchst einen Partner, sagte ich doch.«
»Aber wofür denn unbedingt?« So langsam verliere ich die Nerven, bei all diesen Regeln. Wenigstens hier will ich nicht nachdenken, sondern einfach machen.
»Als Joker. Als zweites Leben.«
»Ich zieh das allein durch.« Lasse mich von Croc nicht beirren, trete geradewegs an ihm vorbei und gehe in die Halle. Bin erstaunt, wie sie sich verändert hat. Statt der Liegen stehen dort nun alte Sofas und Sessel in allen möglichen Variationen. Mal aus braunem Leder, mal aus rotem Stoff. Auch einfache Holzbänke an den Seiten.
Ich steuere ein blaues Sofa an, mit bunten Blümchenmustern. So eins hatten wir damals auch. Ich stelle meinen Rucksack auf dem Fußboden vor mir ab und klemme ihn mit den Beinen fest. Das Geld vom letzten Mal bar in der Tasche, habe direkt alles vom Konto geräumt. Damit keine Behörde oder sonst eine Institution auf die Idee kommen kann es abzubuchen und die Schulden damit auszugleichen. Beim Vermieter war ich noch nicht, hab vorerst meine wichtigsten Sachen, die noch übrig geblieben sind in meinen Rucksack gepackt und bin weg.
Auf einem kleinen Tisch neben dem Sofa liegt ein Gameboy erster Generation.
»Du hast wieder meine Batterien leergespielt«, höre ich das Quäken meiner Schwester im inneren Ohr. Sollte sie doch froh sein, dass ich endlich ihre Super-Mario-Land-Level geschafft hab, an denen sie schon seit Tagen dran war. Und ein Jahr später das überhebliche »Du kannst ihn haben. Ich bin jetzt eh zu alt dafür«, als sie mir den Gameboy aufs Bett geschmissen hat, und ich ihn wie einen kostbaren Schatz aufhob, die gespeicherten Spielstände löschte und alle von vorn anfing. Bis er dann auch bei mir irgendwann in der untersten Schublade verschwand.
Vor mir auf dem Boden eine Playstation. Bekamen wir damals zu Weihnachten. Sozusagen ein Familiengeschenk. Meine Mutter, meine Schwester und ich selig zusammen auf der Couch: erst Tetris, dann Herkules, Autorennen, die Demo-DVD. Und mein Vater wohlwollend daneben. Ohne zu wissen, dass das alles in ein paar Jahren vorbei sein würde. Aber vorher sollten wir uns noch hunderte Male um den ersten Controller streiten. Und gegen die Mutter im Tetriswahn verlieren.
Auf einem anderen Tisch entdecke ich das Sega Master System, das ich als Kind immer wenig erfolgreich gegen die Nintendospieler in meiner Nachbarschaft verteidigte. Ihr hattet vielleicht Super Mario, aber wir hatten dagegen Super Boy.
Nur Erinnerungen. Gestorbene Zeit. Ich logge mich mit dem Handy ein, ändere die Kontonummer in meinem Account, keine Zeit für Sentimentalitäten. Rufe kurz darauf die Seite erneut auf und ändere die Kontonummer, zurück zu meiner.
Dann sehe ich mich um, wie sich die Halle nach und nach füllt. Die unterschiedlichsten Leute. Aber alle fasziniert von der Leinwand vorne, wo geprangert steht: viertausend Euro Jackpot. Der Schriftzug spiegelt sich in ihren Pupillen wieder. Heute mal nicht in Points, klingt mehr in richtiger Währung. Und ist doch nur eine Zahl wie jede andere auch. Als Hintergrund ein bewegliches Bild vom Meer, einzelne Wellen bewegen sich, spülen zum Strand und wieder zurück. Rechts unten Pixelfehler: Eine Welle vermischt sich mit einer zweiten, als rechteckige Einheiten, die sich übereinander schieben und wieder zurück.
»Krasse Idee, oder? Dass man überhaupt mal so gezockt hat, irgendwie kaum vorstellbar.«
Ein Typ Mitte zwanzig setzt sich neben mich. Schwarze Sturmfrisur, Dreitagebart. Ich schüttle den Kopf und fühle mich schrecklich alt. Die Halle füllt sich langsam. Mit neuen Gesichtern und denen, die man schon Jahre kennt, vom Sehen, mit denen man gealtert ist und doch nie miteinander gesprochen hat, außer das Nötigste. Und Croc mittendrin, der mir immer wieder zugrinst, sich dann umdreht und das macht, was er immer macht: Leute manipulieren.
Wenig später füllt sich die Halle immer mehr – und dann geht es los. Croc steht vorne auf der Bühne, begrüßt kurz die Leute. Es handle sich zwar um originale Konsolen, aber alle seien miteinander verbunden, sodass man auch jederzeit auf den großen Monitoren die einzelnen Spiele übertragen könne. »Wer stirbt, fliegt. Dann kann nur noch euer Partner weitermachen. Falls ihr einen habt.« Er wirft einen Blick zu mir, und ich sehe ihm direkt in die Augen, schaue nicht weg. »Und wenn auch seine Leben aufgebraucht sind, ist es für euch vorbei. Wenn am Ende zwei übrig bleiben, machen wir hier vorne weiter. Wie normal, ohne die Retrokonsolen.«
Zwei sollen am Ende übrig bleiben? Ich sehe mich um, die Halle ist noch voller als sonst. Wie lange sollen wir denn durchzocken? Egal. Ich nehme mir den Gameboy direkt neben mir, schalte ihn ein. Keine einzelnen Spiele, die ich einstecken muss,