Den berühmten gemeinsamen, meistens viel zu kleinen, Nenner gibt es nicht. Alles verschwimmt, alles ist im Fluss, von der Genregrenze bis zur Erzählperspektive. »Friedensleere« von Jan-Tobias Kitzel zum Beispiel liest sich, als ob man sich durch eine Box mit alten Games zockt. Mal blickt man durch die Augen eines Wachmanns, mal durch die eines archaischen Kriegers oder Familienvaters. Das Einzige, was alle Autoren vereint, beschreibt ein Satz aus »MetaGamer« ganz gut, den Thorsten Küper seinem gebrochenen Helden in den Mund legt: »Sie ist eine von uns. Nerd.« Was hier – und eigentlich überall – als Kompliment zu verstehen ist.
Darf man am Ende eines Vorworts im Jahr 2016 wirklich noch schreiben SPIELER EINS BEREIT? Man darf, wenn das, was folgt, wirklich ein neues Spiel ist. Und das ist hier der Fall.
RUN
Constantin Gillies
Köln, Januar 2016
LEVEL 1
LEVEL 1
Start New Game?
Melanie Junge
Wie eine undurchdringliche Grenze baut sich die rote Metalltür vor mir auf, die Farbe bereits abgeblättert, nur der Schriftzug Private party ist noch deutlich erkennbar, aufgesprüht von irgendeinem Amateur, wahrscheinlich von Croc persönlich: der Chef der Spiele, der einem Krokodil ähnelt, mit seinem riesigen Maul aus spitzen Zähnen und den tiefsitzenden Augen, und sich deswegen den Spitznamen gegeben hat. Damit sich niemand über sein Aussehen lustig machen kann, heißt es. Ich persönlich glaube eher, dass er seine gefährliche Ausstrahlung unterstreichen will. Nicht umsonst sagen die Leute, er könne einen Menschen mit einem einzigen Bissen verschlingen.
Trotzdem klopfe ich drei Mal. Das Geräusch hallt im Untergrund wieder. Von weiter unten ist das Rattern der U-Bahn zu hören. Die neue Anlage gleich unter der alten: Die alten Tunnel und Bahnhofsstationen wurden an den Meistbietenden verhökert.
Hinter der Tür regt sich nichts, ich schlage noch mal dagegen, diesmal lauter. Wobei man es eigentlich nicht müsste, ist eine alte Gewohnheit. Die Sensoren vor der Tür schicken Croc sofort eine Meldung aufs Handy, von dem er auch Zugriff auf die unauffällig versteckten Kameras hat.
Es ist halb sieben. Die Spiele beginnen erst um acht. Aber eigentlich ist immer einer da.
»Komm schon, ich bin’s, Cat. Mach auf«, sage ich, mehr aus Trotz als an ihn gerichtet. Er weiß genau, dass ich es bin. Das mit dem Spitznamen habe ich mir von Croc abgeschaut. Ich weiß, Cat ist jetzt nicht unbedingt besonders originell, aber als ich damals in die Retro-Battles eingestiegen bin, fiel mir nichts Passenderes ein. Besser als Miriam, das klingt einfach zu normal. Noch schlimmer: Mimi. Viel zu lieb, zu brav. Ich brauchte was Kurzes, Prägnantes, um bekannt zu werden. Je mehr Leute dich kennen, desto mehr Leute laden dich ein, ergo: mehr Spieler, mehr Einsätze, mehr Geld – oder mehr Verluste, je nachdem. Ich war mal ganz gut.
Von innen sind jetzt Bewegungen zu hören, Schritte. Dann ein Rattern, die automatischen Türsperren werden abgefahren. Kurz darauf springt die Tür auf, nur einen Spalt. Croc verzieht die Nase. »Was willst du hier, Cat? Hast du nicht bereits genug Schulden?«
»Gib mir nur noch eine Chance. Ich bekomm’s wieder rein.«
»Das hast du die letzten Male auch gesagt.«
»Komm schon, du kennst mich. Was geht denn heute Abend so?«
Er mustert mich. Ich schaue ihn mit flehendem Blick an.
»So schlimm?« Er grinst, zeigt die gelben Zähne.
»Ich brauch das mal wieder.«
»Okay«, meint er, lässt mich eintreten und aktiviert die automatische Verriegelung. Die Balken schieben sich wieder vor die Tür. »Heute sind ein paar Anfänger mit dabei.«
»Und wie komm ich an die ran?«
»Ich regle das, pack dich in die richtige Liste. Lass sie erst gewinnen und dann mach sie fertig.«
»Ich soll sie also abzocken?«
»Deine Entscheidung.«
Ich nicke. So fängt man Junkies. Gib ihnen das Gefühl, ganz oben zu sein, alles unter Kontrolle zu haben, und dann saug ihnen das Geld aus. Wenn sie einmal den Kick gespürt haben, werden sie wieder kommen. Immer wieder. So wie ich. Egal, ob sie gerade flüssig sind oder nicht.
Croc geht voran, durch einen schmalen Gang, der auf der einen Seite aus rustikalen Holzbrettern besteht und auf der anderen aus einer dicken Steinmauer, von der aus einige schwere Metalltüren abgehen. Diverse Privaträume, die nur mit elektronischen Erkennungsmarken zu öffnen sind.
Und dann führt der Gang weiter in den Hauptraum: eine riesige Halle, auch hier rundherum die dicken Steinmauern, zugeklebt mit Plakaten, und an den Seiten hängen riesige Monitore. Mitten in der Halle die Liegen, alle neben- und hintereinander geordnet, mit VR-Helmen, Tastatur, Joystick, Maus und weißen Anzügen ausgestattet, für ein besseres Spielgefühl. Letztere sind keine Pflicht, helfen aber enorm bei der Körperregulierung. Kleine Sensoren messen Puls und Temperatur. Sinkt der Wärmegrad, heizt sich die Kleidung auf; steigt er, fällt sie in eine kühlende Wirkung. So auch beim Herzschlag. Am Handgelenk sitzt eine kleine Drüse, die bei Bedarf Mittel gegen Herzrasen direkt in die Blutbahn spritzt. Passiert öfter, als man glaubt.
Seitlich in der Halle ist eine Bar, in der es von alkoholhaltigen Drinks bis zu Tee alles gibt, und vorne eine kleine Bühne, aus ebenso alten Holzbrettern zusammengeschraubt wie die Grenze zwischen Haupthalle und Gang. Darüber hängt eine Leinwand, jetzt noch weiß und nichtssagend. Später werden vereinzelte Spiele darauf zu sehen sein, zum Anfixen für andere Spieler. Zuschauer gibt es nicht. Leute, die sagen, sie wollen sich das nur mal anschauen, sitzen früher oder später auf einem der Liegestühle und zocken ebenfalls um ihre Points, digitales Geld. Hier läuft nichts bar. Jeder besitzt einen Account mit einem eigenen Konto. Ein Spieler zahlt so viel ein, wie er will. Es gibt auch die Möglichkeit, zusätzlich sein normales Konto mit dem Spieleraccount zu verbinden. So habe ich es getan. Dann bekommst du deinen Gewinn sofortüberwiesen. Und verlierst im Pechfall leider auch alles, bis hin zu dem Geld, das eigentlich für die Miete gedacht ist. Weil du weiter zockst, auch wenn du nichts mehr hast, und überziehst. Im Endeffekt macht es zwar keinen Unterschied, denn der Wert ändert sich nicht. Aber echtes Geld bleibt auch in diesen Zeiten sicherer als digitales.
»Startkapital hast du?«
Ich zucke mit den Schultern, versuche, es beiläufig klingen zu lassen: »Nun ja, wäre nett, wenn du mir was leihen könntest.«
»Ich überweis dir was. Im Gegenzug, dass du mir Spieler anlockst.«
Ich nicke, sage nicht »Danke«, weil es nur ein Deal ist. Er macht es nicht, um mir zu helfen, sondern um mich bei der Stange zu halten. Eigentlich unnötig. Außerdem wird er es sowieso von den Neuen zurückbekommen, hat seine ganz eigenen Profis in der Halle sitzen, die Bares eintreiben. Vielleicht werde ich eine von denen. Es gibt miesere Jobs.
Croc schaut auf sein Handy, nickt mir zu und verschwindet dann wieder Richtung Gang, tippt gleichzeitig etwas.
Ich setze mich kurz an die Bar und checke meinen Account: Er hat bereits dreihundert Points überwiesen. Ich bestell mir ein Bier und halte dem Barkeeper den Strichcode auf dem kleinen Bildschirm hin, er scannt ihn und sofort werden drei Points abgebucht. Heute mal kein Wasser. Ich hab gerade zum zweiten Mal die Flasche angesetzt, da kehrt Croc schon wieder zurück. Zwei bekannte Gesichter dackeln ihm hinterher, die Gier in den Augen, das Streben nach dem Kick und der Gedanke, dass es heute endlich mal wieder klappt. Sie kommen zur Bar, sehen mich wie mitleidige Hunde an. Croc winkt mir mit dem Kopf zu, ich stehe vom Barhocker auf und gehe zu ihm.
»Du spielst in einem der Privatzimmer.«
»Warum?«
»Stell keine Fragen, komm mit«, faucht er mich an.
Ich