Er geht dann zum Kula Pīṭha, um die Kula-Gottheit zu verehren. In der Tür des Andachtsortes zeigt er sich freudig mit Gesang, Tanz und Musikinstrumenten, und nachdem er so den Kula Dämon vertrieben hat, sollte (der Sādhaka) den Kula-Treffpunkt verehren. (KCT, 2, 13-14, nach Finn).
Musik ist viel mehr als Unterhaltung. Sie ist auch eine Form der Bewusstseinsveränderung, eine einfache und praktische Methode, Trancezustände zu generieren. Wir können die Götter mit Gebet und Geste erreichen, aber wir können auch einfach eine passende Tonleiter nutzen, um mit ihnen zusammenzukommen. Da das Thema sehr umfangreich ist, habe ich mich entschlossen, den ursprünglich vorgesehenen etwa dreißig Seiten langen Anhang auf ein winziges Minimum zu reduzieren, und ein paar grundlegende Rāgatonleitern, die bestimmte Götter manifestieren, am Ende des Buchs aufgeführt. Du wirst mit ihnen zwar noch lange keine klassische indische Musik machen, aber sie können Dir helfen, die Götter in einer Klangmeditation zu erleben. Dafür brauchst Du keine indischen Instrumente. Ein paar Flöten in verschiedenen Stimmungen, eine Gitarre, Mandoline oder Geige tun’s auch. Wichtiger als die Instrumente ist das Bewusstsein vom Klang. Klang ist im indischen Denken essentiell: alles manifestiert sich zuerst als Idee, als Vibration, Klang, Energie und zuletzt als mehr oder weniger feste Form. Klang ist dabei viel näher am reinen Bewusstsein als eine vermenschlichte Form. Den Klang zu erzeugen, ist ein Teil der Schöpfung, und genauso wichtig ist es, genau hin zu hören.
‚Daher hört die höchste Göttin alles. Da sie in der Form der Kraft des Hörens weilt, hat sie die souveräne Macht, die darin besteht, stimmige und angemessene Verbindungen zu schaffen, indem sie allen Klang zu einer bedeutungsvolle Ganzheit verbindet …‘ (Abhinavagupta, PTV, Seite 68, nach Singh). Wenn Du wirklich intensiv ins Tantra eintauchen willst, gehört freies Musizieren unbedingt dazu.
Um all diese Auslassungen auszugleichen, kann ich Dir nur empfehlen, soviel wissenschaftliche Literatur über ‘Tantra’ zu lesen, wie Du nur in die Finger bekommen kannst, um zu entdecken, was für Dich funktioniert, und es weiterzuentwickeln. ‘Tantra’ ist kein Fossil aus dem Museum der vertrockneten Spiritualität; es ist vor allem eine Einstellung, die Dein Leben auf vielerlei Weise verändern wird. Manches im ‚klassischen Tantra‘ ist unzeitgemäß, unnütz, unpassend für unsere Gesellschaft, strafbar oder schlichtweg ungesund. Anderes verdient es, wiederbelebt und neu entdeckt zu werden. Wieder andere Methoden lassen sich mit großem Nutzen in andere spirituelle Disziplinen einbringen; hier denke ich vor allem an die modernen heidnischen Wege und die westliche magische Tradition, deren Repertoire an authentischen spirituellen Praktiken dank der traurigen Quellenlage leider eher gering ist. Tantra ist kein Ding an sich, sondern eine Lebenseinstellung. Wenn Du denjenigen danken willst, die Dir voraus gingen, dann lerne alles, was Du kannst, verbessere eine Menge und bring es in neue Dimensionen.
Abkürzungen der wichtigsten Primärquellen mit Kommentaren
AV Atharvaveda Der jüngste der vier Veden; der AV bietet eine große Auswahl an Hymnen, Sprüchen, Flüchen und Zaubereien, rituellen Anweisungen, Formeln und ungewöhnlichem Material, das keinen Platz in den älteren Veden fand. Der Atharvaveda ist bemerkenswert wegen seiner praktischen Nutzbarkeit und seiner poetischen Anmut. Er steht zwischen dem klassischen vedischen Denken und der subtileren Philosophie der Upaniṣaden. Da Zauberei von vielen orthodoxen Hindus abgelehnt wird, wird auch der AV nicht allgemein akzeptiert.
BāUp Bṛhad-āraṇyaka Upaniṣad Vermutlich die älteste Upaniṣad und ein, verglichen mit den Vedas, revolutionäres neues Werk, welches statt äußerlichen Opferriten einen inneren Weg zur Befreiung vorschlägt. Der Text wurde, wie der Titel andeutet, vor allem für waldbewohnende Asketen geschrieben.
DM Devī Māhātmya (auch bekannt als Śrī Durgā Saptaśati oder als Caṇḍī). Ein Text aus dem 6.-7. Jh., der erhalten blieb, da er im Mārkāṇḍeya Purāṇa integriert wurde. Eine der frühesten Manifestationen jener religiösen Richtung, die sich etwa ab dem 10. Jh. als Śākta-Bewegung bezeichnete. Ein kurzes und poetisches Werk in siebenhundert Mantras, welches drei Kämpfe der Devī gegen die Dämonen beschreibt. Darin finden sich auch einige der ersten Beschreibungen von Kālī und den Mātṛkā Devī, denn ohne diese hätten es die Devī wesentlich schwerer gehabt. Der Text enthält wichtige Hymnen und etliche Widersprüche: diese lassen erkennen, dass dieses frühe und wichtige Werk mehrere ältere Traditionen miteinander verbindet.
DBh Devī Bhāgavatam Purāṇa. Ein massives Werk in (angeblich) 100.000 Versen über die Mythologie der Göttin und die typischen Purāṇa-Themen wie Kosmologie, Genealogie, Mythen, Pseudogeschichte, Geografie, tägliches Ritual, Meditation, Anbetung, eintausend Namen der Gottheit usw. Das meiste davon wurde im 13. Jh. vollendet, aber einige Abschnitte scheinen bis ins 17. Jhd. hinzugefügt worden zu sein. Von der Grundstruktur her ist dieses Buch ein Versuch, ein Gegenstück zu den berühmten Viṣṇu- und Śiva-Purāṇas zu schaffen. Ein wichtiger Teilabschnitt wird als Devī Gītā, also Gesang der Devī, bezeichnet und hat als eigenständiges Werk einen hohen Status. Das DBh ist, obwohl ein erklärtes Śākta-Werk, stark von der Vaiṣṇava-Philosophie und der orthodoxen Hindu-Ethik geprägt. Viṣṇu wird in vielerlei Formen gepriesen, Śiva dagegen taucht erstaunlich selten auf. Tantra ist tief darin verwurzelt, wird aber trotzdem meist mit Argwohn betrachtet, Klassentrennung bleibt ein Muss, und trotz aller Göttinnenverehrung sind Frauen nicht berechtigt, das Werk selbst zu lesen. Trotz dieser Mängel bleibt das DBh eine wichtige und umfangreiche Quelle.
DG Devī Gītā (Der Gesang der Göttin). Das wichtigste und beliebteste Teilstück des Devī Bhāgavatam Purāṇa, als Gegenstück zur Bhagavad Gītā verfasst. Der Text wurde um das 15. Jhd. zusammengestellt, enthält aber auch älteres Material der Śākta Tradition und lange Passagen, die wörtlich aus den älteren Upaniṣaden übernommen worden. Das Werk ist erstaunlich umfassend: es enthält eine detaillierte Kosmologie, die stark vom Vedānta geprägt ist, Hymnen, eine mythische Rahmenhandlung und praktische Kapitel, die sich mit Yoga, Meditation, Bhakti, heiligen Orten und sogar tantrischen Praktiken (wie der Kuṇḍalinī) beschäftigen. Dabei wird versucht, Vedānta, orthodoxes Ritual und einen Teil der tantrischen Praxis zu verschmelzen, wobei, wie zu erwarten war, Elemente des Pfades der Linken Hand streng abgelehnt werden. Eines der schönsten Werke der indischen Literatur.
GS Gheraṇḍa Saṁhita Die Lehren des heiligen Gheraṇḍa über Yoga. Vermutlich das einflussreichste systematische Werk in der Entwicklung dessen, was heute weltweit als Yoga gelehrt wird. Viel Material zum Thema Spülungen, Körperhaltungen, Atempraxis usw., sowie ein wenig Meditation und tantrische Praktiken. Dieses Buch hatte einen immensen Einfluss auf die Theosophen, indischen Religionsreformer und natürlich auf Vivekānanda, durch deren Bemühung um 1930 herum der von ‚Aberglauben‘ und ‚Mystizismus‘ bereinigte moderne Yoga entstand. Auf Deutsch erhältlich (Sacharow, 1954).
KP Kālikāpurāṇa ca. 9.-16. Jh.; ältestes erhaltenes Manuskript 1726. Enthält unter anderem wichtige Informationen zu den Mahāvidyās und zu deren Verehrung in Kāmarūpa.
KS Karpūrādi-Stotra ‘Hymne an Kampfer’ (= Kālī). Möglicherweise die kürzeste Zusammenfassung des linkshändigen Pfades in der tantrischen Literatur. Das Buch, welches Du gerade liest, entstand bei dem Versuch, einen einfachen Kommentar zum KS zu verfassen.
KN Kaulajñāna nirṇaya Ein Tantra, das Matsyendranātha (ca. 11. Jhd.) zugeschrieben wird und Lehren der Yogīnī- und Nātha-Schulen enthält. Der KN ist bemerkenswert wegen seines erfrischenden Stils, seiner detaillierten Anweisungen zur Meditation und Visualisierung und für seine unorthodoxe, praktische Herangehensweise. Der Text ist ganz auf Praxis ausgerichtet, philosophische Spekulationen kommen nur am Rande vor.
KCT Kulacūḍāmaṇi Tantra ‘Das