Weitere Themen dieser Art sind die Wissenschaft von den Phonemen, den Kategorien der Existenz, und der riesige Bereich der philosophischen Erkenntnis, die aus den praktischen Erfahrungen jener wundervoll verrückten Seher erwuchs. Schon die Sāṁkhya-Schule unterteile das gesamte Dasein in 25 Prinzipien. Spätere Systeme wie Krama, Pratyabhijña, Kula und Trika erweiterten das Daseinsspektrum zwischen dem Manifestierten, Menschlichen und dem undefinierbar Göttlichen in 36 oder 37 Kategorien oder passten derartige kosmologischen Modelle an die etwa 50 Phoneme des indischen ‚Alphabets‘ an. Das Ergebnis war ein Modell der Welt, in dem sich alle Wesensbereiche, Elemente und Zustände als Klänge darstellen ließen. Das hatte besonders starken Einfluss auf die stetig diffiziler werdende Wissenschaft der Mantras. Hier begegnet man derartig verfeinerten und komplizierten Kosmologien, dass sich die hebräische Qabala, die mesopotamischen Geheimlehren und die Anderswelten der Ägypter im Vergleich dazu wie Kinderspielzeug ausnehmen. Manche spirituellen Systeme waren weitgehend auf solche Spekulationen gegründet: der Weg zum Heil lag im Bedenken, Erkennen und Erinnern. Andere Systeme konzentrierten sich auf praktische Erfahrungen, und wenn den heranwachsenden Tantrikern welterschütternde Einsichten kamen, wurden diese mit einem Grinsen zur Kenntnis genommen, und niemand machte eine große Szene deshalb. Denn erschütternde Einsichten kommen immer wieder vor. Sie zeigen, dass man noch am Leben ist. Doch sollte man hier nicht einfach zwischen ‚Theoretikern‘ und ‚Praktikern‘ unterscheiden, denn so simpel ist es nicht. Es gibt ‘tantrische’ Systeme, die philosophisch erscheinen, es aber nicht sind, weil sie auf spiritueller Erfahrung statt auf Nachdenken, Logik und Spekulation beruhen. Tatsächlich gibt es eine Menge davon, und sie stimmen nicht miteinander überein, oft noch nicht einmal in den Grundlagen. In diesem Buch ist deshalb die ‘tantrische Theorie’ auf ein sehr kleines Minimum reduziert. Eine Ausnahme machen wir im Kapitel über den Krama, um zumindest ansatzweise vorzustellen, zu was für Höhenflügen die Seher/innen Kaschmirs fähig waren. Diese Tradition, obwohl sie größtenteils verloren und vergessen ist, bietet immer noch genug Material, um zum Denken, Verstehen und Erleben zu verhelfen. Und sie ist, was ein besonderer Bonus darstellt, eng mit einer ganzen Serie von Kālīs verknüpft. Auch hier habe ich die Theorie stark vereinfacht. Das alles soll verdeutlichen, dass es den meisten Tantrikern nicht nur darum ging, zu glauben oder Rituale durchzuführen. Nur weil Du und ich möglicherweise die direkte Erfahrung der Theorie vorziehen, will ich nicht den Eindruck vermitteln, dass alle ‘tantrischen’ Gurus so denken.
Ein weiteres Thema, das ich nur ansatzweise behandelt habe, ist die praktische Magie, Zauberei und Beschwörung. Moderne Autoren neigen dazu, den Eindruck zu vermitteln, ‘Tantra’ und ‘Yoga’ seien Disziplinen, die dafür gedacht sind, Wohlgefühl, Gesundheit, Erleuchtung und Befreiung zu garantieren, und dass ihre Anwendung für Zaubereien eine Perversion des ursprünglich reinen Credos sei. Was gut klingen mag, aber schlicht und einfach falsch ist. Zauberei gab es schon immer, und für die meisten Praktizierenden war sie die Hauptsache. Du findest sie in den ältesten Texten. Rituale zur Erschaffung magischer Schwerter, die Feinde aus der Ferne köpfen; Rituale, um Städte zu erschüttern, Gegner zu lähmen, zu betäuben, zu blenden oder auf andere Art zu vernichten usw. sind ausgesprochen häufig. Yogīs und Tāntrikas waren berühmt und gefürchtet für ihre Fähigkeit, in Tiere oder Menschen einzudringen und die Seelen ihrer Opfer in andere Wesen, Leichen oder geeignete Behältnisse zu verbannen. Besonders beliebt war die magische Macht (Siddhi), den Körper eines Königs zu übernehmen, um dann ein Leben der Lust und des Reichtums zu genießen. Die Seele des Königs hatte das Glück, den Rest ihres Daseins in einem Haustier verbringen zu dürfen. Diese Praxis wird in der älteren Literatur ausgesprochen oft erwähnt. Sie wurde nicht nur von bösartigen Hexern verwendet: als der geachtete religiöse Reformator Śaṅkara (er wirkte etwa von 788 bis 820) erkannte, dass ihm zur spirituellen Reife noch die Erfahrung der Liebeskunst fehlte, übernahm er kurzerhand den Körper eines Königs, um sich auszutoben. Netterweise wählte er allerdings einen, der kurz zuvor verstorben war. Dabei gefiel es ihm so gut, dass ihn seine eigenen Schüler nur mit Mühe zum asketischen Leben zurück gewinnen konnten (White, 2011 : 27). Magische Riten wirkten anziehend auf Zauberer und Scharlatane, die Gewinn mit dem Verkauf von Zaubersprüchen machten; sie waren auch erstaunlich beliebt unter Königen und Politikern, die andere Königreiche beherrschen wollten. Weit davon entfernt, eine Perversion der niederen Klassen zu sein, wurden solche Riten vom gebildeten Volk aus den höchsten Ebenen der Gesellschaft geschätzt. Es mag keine populäre Vorstellung sein, aber es ist so, dass viele der frühesten Yogīs und Tāntrikas sich einen Dreck um Ethik scherten oder um das, was moderne, gebildete, politisch korrekte und gut ernährte Menschen für ‘spirituell’ halten.
Alchemie ist ein weiteres Thema, das ich weitgehend auslassen musste. Es wurde von den meisten Forschern ignoriert, außer von solchen Pionieren wie David Gordon White. Die Kunst der Raffinierung und Einnahme von Quecksilber und Zinnober war essentiell in vielen ‘tantrischen’ Systemen, wie bei den Siddhas, Nāthas und Yogīs, und keineswegs eine Nebensache. Zahlreiche Adepten, die den Haṭhayoga und das moderne Sieben-Cakras-System entwickelten, nahmen fröhlich Gifte ein, ungeachtet der Konsequenzen. Sie wollten vor allem die Welt transzendieren oder Unsterblichkeit erlangen, und ersteres hat meistens ziemlich schnell geklappt. Sie verkauften solche Wunderdrogen auch an wohlhabende Aristokraten und Könige. Solche Heilmittel sind heute noch verbreitet: ich habe mit etlichen Nepalis gesprochen, die der Ansicht waren, dass Quecksilber verjüngt und das Leben verlängert. Da vom praktischen Gesichtspunkt aus nur wenig Nutzen in diesem Thema liegt – es sein denn, Du willst Dich umbringen – habe ich die Sache nur hier und da erwähnt.
Schließlich gibt es noch einen gewaltigen Bereich dessen, was man ungefähr als ‘Volkstantra’ bezeichnen kann, basierend auf Myriaden von ethnischen Traditionen und lokalen Gottheiten, Gebräuchen und Ritualen. Während das Wort ‘Tantra’ vor allem ‘Gewebe, (spiritueller) Text, Lehrbuch, Wissenschaft’ bedeutet und alles, was wir von den früheren Systemen wissen, auf schriftlichen Quellen basiert, gibt es einen enorm komplexen, bunten und verwirrenden Bereich von ungeschriebenen Traditionen, die von Leuten entwickelt wurden, die draußen auf der Straße oder als Haushälter in der Gesellschaft lebten. Diese Themen sind faszinierend und werden in den Büchern von June McDaniel wunderbar präsentiert.
Zuletzt möchte ich noch ein Thema erwähnen, welches hierzulande besonders brachliegt. Es handelt sich um spirituelle Musik. Die klassische indische Musik gehört zum Besten, was auf diesem Planeten je entwickelt wurde. Sie besteht oft aus einer subtilen Kombination von traditionellen Elementen (Tonleitern, Rhythmen, kurzen melodischen Elementen) und einer großen Menge Improvisation. Rāgas (spezielle Musikstücke, Farben, Gefühle) sind keine definierten Lieder oder Kompositionen, wie hierzulande üblich, sondern leben durch die Tatsache, dass sie sich bei jedem Spiel neu entwickeln. Wenn ein guter Musiker einen Rāga spielt, weiß das Publikum nicht, ob das Ereignis zehn Minuten oder zwei Stunden dauern wird. Da diese Musik von der Improvisation lebt, ist sie viel eher als ein spirituelles Ritual als eine mechanische Darbietung zu verstehen. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass viele bedeutende Tantriker selber begeisterte Musiker waren (und sind).
Überschwängliche Freude, höchste Glückseligkeit, zunehmendes Wissen, das Spiel der Flöte und der Viṇā-Laute, Poesie, Weinen, Redegewalt, Hinfallen und wieder Aufstehen, Gähnen und Herumwandeln – all diese Handlungen, oh Devī, werden als Yoga-Praktiken betrachtet.