Diese Leidenschaft ist in dieser Gegend nicht gerade verbreitet. Meschedes damals bekanntestes Musikerzeugnis ist die New Wave Band Short Romans, deren Songs immerhin im WDR und bei Ingolf Lücks ‚Formel 1‘ gespielt werden. Darüber hinaus bietet die Stadt nur einen einzigen Plattenladen, einen von jener Sorte, in dem Stilbezeichnungen wie ‚Pop‘, ‚Jazz‘, ‚Reggae‘ und ‚Klassik‘ etliche Regalmeter füllen und irgendwo ganz hinten am Rand, vielleicht unter ‚Hardrock‘ oder ‚Punk‘, ein paar interessante Platten zu finden sind. Einer jener Läden, der beim Eintreten braun schimmert, mit weichem Teppichboden, der einmal pro Woche geschäumt wird und nicht ein verdammtes Antikreuz auf den Plakaten an der Wand hat. Dorthin zu gehen und nach Heavy Metal zu suchen gleicht dem wöchentlichen Gang zum Briefkasten, um nachzusehen, ob man einen Sechser im Lotto hat – man tut es, aber es passiert einfach nicht. Natürlich kann man Platten bestellen und auch im neuen Karstadt gibt es eine Plattenabteilung. Nur ist das teurer als die üblichen 20 D-Mark, die ohnehin schon das halbe Monatsgehalt eines durchschnittlichen 15-jährigen bedeuten.
So finden sich Harry und Marc regelmäßig in der Raucherecke ein, zum Fachsimpeln und natürlich auch zum Tauschen, beladen mit dem explosivsten Vinylstoff, das schwarze Rillengold, das heiligste: Es gleicht einem zeremoniellen Akt, wenn Rüdiger mit der geschickten Vorsicht eines Juweliers in die Alditüte greift und unter den großen Augen der anderen eine viereckige Papphülle mit umgedrehtem Pentagramm und Teufel mit Schwert zum Vorschein bringt.
Ehrfürchtig, nur mit den Fingerspitzen berührt, wird es von einem zum anderen gereicht wie ein Artefakt aus einem fernen Land. Im Umkreis von einer halben Tagesreise wird es kaum einen Menschen geben, der ‚Show No Mercy‘ sein Eigen nennt. Rüdiger hält die Platte hoch, die neueste Errungenschaft. Oh Gott, wehe, wenn das Album scheiße ist! Jeder wird in den nächsten Tagen ein Tape davon erhalten. So geht es die nächsten Wochen, Monate und es etabliert sich unter den vier einzigen Metallern in Meschede ein System: Einer kauft sich eine Platte, die wird rumgereicht und sorgt in der Regel bei allen für ungeteilte Begeisterung.
Zum Glück ist auf die Thrash-Bands in den achtziger Jahren Verlass. Für ‚Seven Churches‘ lohnt es sich, sobald das Geld zusammen gekratzt ist, den halben Tag nach Dortmund zu fahren, wo es die Plattenläden gibt, die schon von außen wie ein Metal-Tempel aussehen. Natürlich nur für den Initiierten, den Eingeweihten, der dort, wo andere nur Horrorgestalten und Teufelsanbetung sehen, seine Heiligtümer erblickt. Marc erwarb dort seine erste Platte, ‚Killers‘ von Iron Maiden, die er sich nur zulegte, weil er das Cover so geil fand. Neben den unerreichbaren Ikonen reicht Rüdiger eines Tages auch ‚Pleasure To Kill‘ herum, das zweite Album einer aufstrebenden Essener Band namens Kreator um den Sänger Miland ‚Mille‘ Petrozza.
Mille ist ein 17-jähriger Musikbesessener, der mit seiner Band tatsächlich schon eigenes Vinyl fabriziert hat. Im Unterschied zu vielen anderen Idolen wohnt er in Essen. Das ist gefühlt nicht unbedingt sehr viel näher als Los Angeles und San Francisco, aber immerhin muss man dafür nicht in ein Flugzeug steigen. Da auf dem Plattencover in diesen Tagen noch die Telefonnummer von Milles Eltern als Kontakt steht, lässt Carsten sich nicht lumpen und ruft eines Tages dort an:
„Petrozza?“
„Ja, hallo, ist Mille zu sprechen?“
„Wer ist denn da?“
„Carsten und Rüdiger. Wir sind Fans von, äh, Ihrem Sohn.“
„[der Hörer wird zur Seite gelegt, im Hintergrund] Miland? Hier ist ein Fan für Dich dran!“
Kleine Pause
„Hallo?“
„Hallo Mille?“
„Wer ist da?“
„Carsten, aus Meschede. Sag mal, kann man Euch eigentlich mal besuchen?“
So schnell geht das. Wie sich bald herausstellt, ist Carsten ein Kontaktmann allererster Güte. Wo andere sich tagelang den Kopf darüber zerbrechen, wie man mit dem einen oder anderen Kontakt aufnehmen könnte, ist seine Antwort stets: Einfach machen. Also ab nach Altenessen.
Kreator im Proberaum zu treffen, läuft nicht ohne familiäre Unterstützung. Eine Übernachtungsmöglichkeit gibt es bei der Tante, die Eltern dienen als Chauffeure ins Ruhrgebiet und um nicht als Hinterwäldler dazustehen, putzen sich Carsten und Rüdiger in bester Metallermanier heraus: Kutte, Shirt, Nieten; alles, was dazugehört. Derart aufgebrezelt kaufen sie sich am Dortmunder Hauptbahnhof Tickets, setzen sich in die S-Bahn Richtung Essen und harren der Dinge. Der Uniformierte, der mit strengem Gefängniswärterblick die Fahrscheine kontrolliert, mustert sie einige Sekunden.
„Fahrscheine! [strenger Blick über die silberne Lesebrille] Mmh, okay, ihr kommt gleich mal mit!“
„Was ist los? Wir haben Tickets!“
„Das hier ist die erste Klasse. Die Tickets sind nur für die zweite Klasse.“
So geht es im Essener Hauptbahnhof erst einmal zum Polizeirevier. Während die beiden auf den zuständigen Vollzugsbeamten warten, wird ihnen der Blick des Schaffners etwas klarer. Vor ihnen hängt ein Plakat, auf dem in Drohposition einige Gestalten abgebildet sind, die ihnen nicht unähnlich erscheinen. Darüber prangt der Satz: „Sind Sie sicher vor Gewalt?“ – Willkommen im Ruhrgebiet. Man hat das Gefühl, in Abschiebehaft zu sitzen, als müsse man gleich den nächsten Zug zurück in die Heimat nehmen.
Zum Glück ergeht es Rüdiger und Carsten nicht so. Mit erheblicher Verzögerung entern sie endlich Altenessen, wo Mille, Rob und Jülle bereits vor dem Proberaum auf sie warten. Ja, Carsten und Rüdiger sind nervös, die Strapazen der Bahnfahrt und nun auf der Couch mit drei Typen, die sowohl Proberaum als auch eine eigene Scheibe draußen haben. Aber es geht locker zu. Man redet über die Musik und findet schnell Gemeinsamkeiten. Immerhin läuft auch in Altenessen zu dieser Zeit ‚Seven Churches‘ und ‚Hell Awaits‘ rauf und runter. Einfach machen! So landet man im Proberaum von Kreator und genauso muss man seine Visionen angehen.
Diese Vision gibt es tatsächlich: eine Band. Carsten besitzt eine E-Gitarre, was ihn in den Augen der anderen zu einem Profi werden lässt, Rüdiger spielt Schlagzeug. Sie proben zunächst im Fotolabor der Schule, dann ziehen sie in den Werkraum, wo sich auch der christliche Schulchor regelmäßig versammelt. Da gibt es Instrumente, also zumindest ein Schlagzeug, Carsten schleppt dazu seine Gitarre an. Der erste Bandname lautet ‚Cadaverous Smell‘ – danach heißen sie ‚Exterminator‘ und schließlich ‚Minas Morgul‘, nachdem Rüdiger bei seinem Vater dessen Tolkien-Sammlung entdeckt hat.
‚Minas Morgul‘ hat in den Köpfen von Rüdiger und Carsten bereits sehr konkrete Formen angenommen. Die Cover der ersten vier Alben stehen bereits fest. Dass die Lärmerzeugung noch alles andere als systematisch ist, fällt bei ihren Plänen nicht weiter ins Gewicht. Tag und Nacht wühlen sie in Magazinen herum, tauschen sich aus, wollen alles wissen. Das einzige, was ihnen fehlt, sind die Mitmusiker.
Also marschieren Marc und Harry eines Tages in den Werkraum, in dem Carsten seiner E-Gitarre gnadenlos die schrägsten Töne entlockt und Rüdiger dazu auf dem mit Flammen verzierten Schlagzeug eindrischt. Harry mit seinem musikalischen Hintergrund ist schnell als zweiter Gitarrist ins Auge gefasst. Marc ist erst einmal nur dabei. Was allerdings sehr beeindruckt, ist seine Performance als Sänger, als er eines Tages Kreators ‚Flag Of Hate‘ in der brutalstmöglichen Version intoniert. So ist auch der letzte vakante Posten bald besetzt. Die Rolle als Bassist bekommt Marc als Sahnehäubchen oben drauf. Niemand außer ihnen ist Zeuge dieses historischen Moments und auch wenn, angefangen bei der Instrumentenbeschaffung hin bis zum Songwriting, noch einiges fehlt, ist doch jedem hinterher klar: Sollen doch Slayer ruhig ‚Reign