Die Bauhausarchitektur des Rothschild-Boulevards bewunderte ich im Halbdunkeln, am Ende des Boulevards steht das Nationaltheater Habimah mit einem großen freien Platz davor. Die zwei jungen Männer traf ich nach einer Stunde nochmals. Die meisten Lokale waren nunmehr geschlossen. Irgendwie musste ich noch die wenigen Stunden bis zum Tagesanbruch vertrödeln. Ich suchte noch ein Lokal, wo ich gemütlich etwas essen und schreiben kann und so bin ich hier bei McDonald’s gelandet.
5:40 Uhr, ich habe eine reichliche Stunde intensiv geschrieben und kaum aus dem Fenster geschaut. Draußen kommt Tageslicht auf und ich sehe den Rothschild-Boulevard erstmalig bei Tageslicht.
Auf, auf zum berühmten Strand von Tel Aviv! Hoffentlich rauscht das Meer. Als Landei liebe ich das Meerrauschen. Ich war schon mehrmals an der Nord- und Ostsee, als das Meer mehrere Tage nicht rauschte – deprimierend. Da hätte ich mich auch an das Ufer einer Thüringer Kiesgrube setzen können.
11:20 Uhr: Ich sitze in einem Cafe unweit der Küste. An einem Tisch schreibt es sich eben doch am besten. Mit übergeschlagenen Beinen auf einer Bank ist es unbequemer.
Wieder ist vieles in den letzten Stunden passiert. Am Meer gegen 6:00 Uhr angekommen, freute ich mich, dass das Meer ein bisschen rauscht. Erstaunlich viele Menschen joggten schon an der Uferpromenade und auf dem vom Meer überspülten Sandstreifen.
Eigentlich mag ich das denglische Wort „joggen“ nicht. Nun, „dauerlaufen“ oder „waldlaufen“ sind aus der deutschsprachigen Mode gekommen. Für das englische Wort Pullover, gibt es kein deutsches Wort. Übersetzt bedeutet Pullover „Überzieher“, kein Mensch sagt Überzieher. Sprache verändert sich, hoffentlich wird die schöne deutsche Sprache nicht ganz abgeschafft.
Ich legte mich an den Strand mit meinem kleinen Rucksack unter dem Kopf, schloss eine Viertelstunde die Augen und war wieder halbwegs frisch.
Dann spazierte ich den Strand entlang. Hier gibt es jetzt Ende April schon viele kastanienbraune Menschen und sie aalen sich weiter in der Sonne. Haben die noch nichts vom Hautkrebs gehört? Na ja, ich rauche auch und habe auch schon vom Lungenkrebs gehört.
Ich schaute zwei Anglern zu und fragte, ob sie schon Fische gefangen hätten.
Der eine erwiderte scharf: „Not po russki“. Das war ein kurzer englisch-russischer Brocken, bedeutete „nicht auf Russisch“ und bedeutete hier eindeutig: Wir sprechen hier kein Russisch, verstehe das bloß, du Depp!!
Wie ich schon im Vorfeld erfahren habe, sind seit 1989 rund 1Million Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel eingewandert. Das sind immerhin etwa 13% der israelischen Bevölkerung – ein ziemlich großer Anteil. Ich las auch Publikationen, wo der Anteil noch höher beziffert wird. Teilweise ist deren jüdische Herkunft umstritten. Viele assimilieren sich nicht so richtig in die israelische Gesellschaft, sprechen vorwiegend russisch, lernen kaum hebräisch. Einige sehen Israel als Sprungbrett an, um im Weiteren in den USA oder in Deutschland zu leben. An deren Stelle wüsste ich auch nicht, warum ich da hebräisch lernen soll. Ein Teil der israelischen Bevölkerung mag diese Einwanderer nicht, was ich bei diesem Angler spürte.
Ich fragte nach dem Fischfang in Englisch. Durch das Meerrauschen hatte er mich missverstanden, dachte, ich spreche russisch.
Ich sagte ihm, dass ich in Englisch nach dem Fischfang gefragt habe.
Er verstand und sagte, dass sie noch keine Fische heute gefangen hätten. Dann unterhielten sich beide Angler hebräisch weiter. Vielleicht hielten sie mich immer noch für einen Russen.
Ich wandelte durch die Straßen Tel Avivs. Ich begegnete Männern mit Kippa und erstmalig einem Juden mit Schläfenlocken. Schläfenlocken trägt ein Großteil der ultraorthodoxen Juden. Ja, es ist Schabbat und irgendwo müssen doch da auch Synagogen sein, wo jetzt Gottesdienste stattfinden. Auf einem Spielplatz fragte ich zwei junge Frauen, die bei ihren spielenden Kindern saßen, nach einer Synagoge. Sie beschrieben mir den Weg zur nächsten Synagoge. Beide waren vor einigen Jahren aus den USA eingewandert.
Vor der Synagoge zog ich meine Jacke zur Bedeckung meiner Arme an, trat in den Vorraum, bedeckte mein Haupt mit einer ausliegenden Papp-Kippa und setzte mich gleich rechts in die Ecke des Saales. Ungefähr 30 Männer beteten gemeinsam. Schläfenlocken hatte hier keiner. Die Umrisse von etwa 10 sitzenden Frauen sah ich im linken Drittel des Saales, der durch eine Gardine abgetrennt war. Von einigen Männern wurde ich skeptisch gemustert.
Meine Papp-Kippa hielt nicht und fiel hinten runter. Oh Gott, habe ich jetzt das heilige Haus entweiht, dachte ich. Ich hob die Kippa auf und zog sie etwas nach vorn, auf dass sie dort wohl verweile.
Wie ich später mitbekam, fixieren einige ihre Kippa mit einer Haarspange und normale Stoff-Kippot (Mehrzahl von Kippa) saugen sich auch etwas am Hinterkopf fest.
Ein Mann kam herein und nickte mir freundlich zu.
Unter gemeinsamen Gesängen wurde die Torarolle durch die Synagoge getragen und auf dem Lesepult ausgerollt. Die Gläubigen hatten alle Gebetsbücher vor sich, machten ab und an Nickbewegungen zum Gebet oder liefen dabei kurz auf der Stelle. Zwischendurch standen sie auf. Ich als Besucher blieb sitzen, ich hoffte, das war okay.
Die wacklige Kippa fiel mir zum vierten Mal runter, ich ging in den Vorraum und wollte schauen, ob da vielleicht Haarklammern rumliegen. Ich fand nichts. Der Rabbi winkte mich von drinnen freundlich lächelnd zu sich, ich traute mich ohne Kopfbedeckung nicht in das Innere der Synagoge. Er kam mir entgegen und gab mir einen Gebetsschal.
Ich sagte ihm, dass mir die Kippa laufend runterfällt. Leider hätte er keine andere. Damit die Kippa nicht gleich wieder runterfällt, rückte ich sie weiter nach vorn auf meinem Haupt – etwas „unorthodox“, da ja die Kippa auf dem Hinterhaupt getragen wird.
Wie die anderen schlang ich mir den Gebetsschal um die Schultern. Als Kind legte ich mir die Bettdecke oft um die Schultern und lief so abends durch die Wohnung. Meine Mutter amüsierte sich immer darüber. Für mich hatte der Umhang, etwas von zu Hause sein – wohl für die Juden etwas von zu Hause sein bei ihrem Gott. Zur Verstärkung ziehen einige auch den Umhang über den Kopf beim Gebet.
Ein Mann betete sehr laut vor und die anderen beteten nach. Vielleicht hinkt der Vergleich aus jüdischer Sicht, nach meinem Gefühl bestand eine gewisse Ähnlichkeit zu einem schier brüllenden Muezzin.
Wohl weil er mitbekam, dass auch Ausländer im Saal sind, sprach der Rabbi einige Worte Englisch. Man solle sich zusammensetzen. Der Mann, der mir beim Hereinkommen freundlich zunickte, setzte sich zu einem anderen. Sie unterhielten sich ab und an in englischer Sprache. Wie ich mitbekam, ist dieser Mann aus den USA und in Tel Aviv nur besuchsweise.
Es kamen auch zwei Männer mit Basecap. Das Wichtigste ist, dass der Kopf bedeckt ist. Zur Not kann man in der Synagoge sein Haupt mit einem Bascap anstelle einer Kippa bedecken.
Bis dahin moderierte der Rabbi den Gottesdienst. Nun übernahm ein anderer Mann und rief mich nach vorn. Ich schaute verlegen, wollte schon ausholen und sagen, dass ich ein atheistischer Tourist sei.
„Sind Sie Jude?“, rief der Mann quer durch die Synagoge.
Ich: „Nein.“
Wortwörtlich er sofort darauf: „Aah.“
Er rief einen anderen vor. Sie hielten mich wohl alle für einen Juden. Nun war ich gar kein Jude. Waren Sie enttäuscht? Ein anderer wurde vor gerufen. Mir reichte es zunächst als erster Eindruck, ich ging. Im Vorraum saß ein anderer Mann mit Basecap, las in einem Buch – wahrscheinlich ein Gebetsbuch – und nickte mir freundlich zu.
Wie ich später herausfand, werden beim Samstagmorgen-Gottesdienst in vielen Gemeinden im Anschluss an die Tora-Lesung Anwesende aufgerufen und erhalten eine besondere