Horst, immerhin ein Freund deines Ex-Mannes sagte mir beim Kaffee danach: „Was du geleistet hast, ich könnte es nicht. Als Jäger kann ich tot machen, pflegen kann ich wohl nicht.“
Ich erwiderte, dass er bei schwerer Krankheit eines nahen Angehörigen sicher nicht weggerannt wäre, sondern sich auch irgendwie dem Problem gestellt und sich gekümmert hätte. Dessen bin ich mir ganz sicher.
Er sagte auch noch: „Ich habe schon viele Trauerfeiern miterlebt, aber das war die Schönste.“
Beides freute mich ganz besonders an diesem traurigen Tag.
Deine Tochter geht einen guten Weg, du wärst stolz auf sie. Wir verstehen uns gut.
Vorhin beim Qualmen auf dem Kiewer Flughafen machte auf der nebligen Raucherinsel mit Stehtisch in der Mitte ein circa 40jähriger Ukrainer eine gerade im Duty-Free-Shop gekaufte Whisky-Flasche auf. Wir wechselten wenige Worte in Russisch. Er war in Begleitung zweier Frauen und wollte mir auch gleich Whisky einschenken. Sie wollten auch nach Tel Aviv. Ich dachte, es wären Neu-Israelis aus der Ukraine. Nein, er arbeitet nur in Tel Aviv. Ich hoffte schon, dass diese netten Menschen mich vom Tel Aviver Flughafen in die Stadt mitnehmen würden. Er sagte mir, ich solle ein Sherut-Taxi nehmen. Wäre ja zu schön gewesen. Vielleicht war es gut so, denn meine Mami hat mir gesagt, ich soll nicht bei fremden Menschen ins Auto steigen – ha, ha, ha.
Jetzt im Flugzeug sitzt ein streng dreinschauender Mann neben mir, circa 30 Jahre alt, sehr kurzer schwarzer Igel-Haarschnitt. Er nickte nur kurz zur Begrüßung und wirkte recht abweisend. Er erinnerte mich an einen meist ernsten Schulkameraden. Nach einer Weile fragte ich ihn doch, ob er in Tel Aviv wohne. Er sprach kaum Englisch und konnte mir nicht antworten – auch ein ukrainischer Arbeiter in Israel?
Das Essen und Bier hier an Bord muss man bezahlen. Es sind normale Gasstätten-Preise. Der Mann nahm nur das kostenlose Mineralwasser. Nun, das hat nichts zu sagen. Vielleicht kommt er schon in einer Stunde an einen reich gedeckten Tisch in Tel Aviv.
Anne Frank schrieb ihr Tagebuch zumeist an ein Phantom namens Kitty. Die Literaturwissenschaftler mutmaßen, wer Kitty war, niemand weiß es wirklich.
Ich will mein Tagebuch zumindest teilweise auch an jemanden schreiben.
Nicht an dich – Mein lieber Schatz.
Ich wäre bei manchem Gedanken über Frauen zu gehemmt. Sei nicht böse. Du könntest manchmal sagen, bei mir hattest du solche Gedanken nicht oder denkst du auch an mich, wenn du laufend über Ornella Muti oder Frau Pumpelhuber schreibst.
Wie wäre es denn mit BV=Beichtvater. BV bedeutete bei der Nationalen Volksarmee der DDR „Besonderes Vorkommnis“, oft mit gewissen Vergehen von Soldaten verbunden. Unser Oberoffizier nannte unsere Pionier-Kompanie einst BV-Kompanie, weil sich die BV’s in unserer Truppe häuften.
BV=Beichtvater – ist gut – ein vertrauenswürdiger Mensch, der das Beichtgeheimnis bis in seinen Tod hütet und mir Absolution erteilt. Vielleicht macht das viele Rheinländer, Italiener, Spanier, Südamerikaner, Bayern so entspannt. Die gehen fremd, lassen killen, killen manchmal selbst, gehen zur Beichte und leben dann mit Absolution und Frohsinn weiter. So ungefähr erklärte mir das ein Katholik. Weil ich damals noch kein Tagebuch führte, weiß ich leider nicht mehr, wer es war.
Weißt du noch, mein lieber Schatz – der ehemalige katholische Pfarrer von Bad Liebenstein zeigte uns den Beichtstuhl seiner neuen modernen Kirche und berichtete uns freudig, dass er sich nach der Beichte immer sehr erleichtert fühle. Katholisches Leben, das wir Nicht-Katholiken gar nicht richtig erlebt und vollends verstanden haben.
Der schwere belastende Stein ist mit der Beichte abgeworfen.
Dazu dienst du mir jetzt – Mein lieber BV.
Ich stelle dich mir als ein Gemisch aus mir vertrauten Freunden, Vorgesetzten, Lehrern, meinen Eltern, meiner Schwester vor. Ihr lasst mich an Eurer Schulter ausheulen und gebt mir als mein BV Absolution.
Tel Aviv, 25.4.15
4:10 Uhr. Es ist Schabbat – der wöchentliche jüdische Feiertag vom Sonnenuntergang am Freitag bis zum Sonnenuntergang am Samstag, auch Sabbat genannt. Der Sonntag ist in Israel ein normaler Arbeitstag.
In den meisten Teilen Israels ist jetzt weitestgehende Stille. Die meisten Juden schlafen jetzt brav, ob sie nun gläubig sind oder säkular. Ein säkularer Jude ist ein Jude, der ohne Glauben lebt.
Hier im Zentrum Tel Avivs – dem säkularen Zentrum des Landes – ticken die Uhren anders. Einige Nachtschwärmer wandeln noch durch die City. Oft lachen sie und unterhalten sich laut. Ich bin bei McDonald’s am Rothschild-Boulevard unweit der Ecke zur Allenby Road eingekehrt und habe gerade einen Chicken-Mac mit Pommes verzehrt. Ein halber Becher Cola wartet noch auf seine Vernichtung. Ein Schwarzer räumt auf. Müll liegt auf dem Fußboden rum. Meinen Tisch in der Ecke habe ich mir zum Schreiben mit Servietten gereinigt. Er blitzt nicht vor Sauberkeit, jedoch okay, es klebt nichts. Von Cola-Resten zusammenklebende Tagebuchseiten würden mich wirklich belasten. Im Leben ist niemals alles perfekt und auf Reisen schon gar nicht. Meinen Reiseführer und die aktuellen Tagebuchseiten werde ich unterwegs gut zusammengepackt in einer Plastiktüte im Rucksack verstauen. Der Reiseführer gehört meinem Cousin – ein sehr korrekter Bauingenieur. Ob ihm das stinkt, dass ich den Reiseführer einfach mitgenommen habe?
Vieles habe ich in den wenigen Stunden seit meiner Landung 23:30 Uhr erlebt:
Kaum hatte ich das Flugzeug verlassen, passte mich eine Frau des Flughafensicherheitsdienstes ab. Die anderen Passagiere neben mir durften weiter gehen. Vielleicht hielt sie mich an, weil ich schon als einsamer Wanderer erkennbar war. Ich bin frisch rasiert, dennoch traf es mich.
Sie wollte meinen Pass sehen und fragte, was ich in Israel wolle.
Ich erwiderte. „Tourist.“
„Reisen Sie allein?“
„Ja.“
Sie durchblätterte die letzten Seiten meines Reisepasses. Der Pass ist erst ein reichliches Jahr alt. Es sind nur Stempel von Sotschi und Antalya vom letzten Jahr drin. Mit Stempeln aus dem arabischen Raum oder gar vom Erzfeind Iran wäre ich wohl terrorismusverdächtig? „Wo sind Sie untergebracht?“
„In einem Hostel in Tel Aviv.“
„Zeigen Sie mir die Buchung!“
„Okay.“ Ich holte die Buchung aus meinem Brustbeutel und gab sie ihr.
Sie gab mir den Reisepass zurück und schaute sich die Hostel-Buchung an.
Nun reichte es mir langsam. „Ich dachte ich wäre hier in einem freien Land, das mutet ja schon an wie …“
„Ja wie denn? Sagen Sie es!“
„Wissen Sie, ich komme aus Ostdeutschland und ich denke so ein bisschen an unseren alten Geheimdienst ›Stasi‹.“
Sie verzog keine Miene und drehte noch den Zettel um.
Da der Wald mir leid tut, nutze ich leere Papierrückseiten zum Ausdruck. Die Rückseite des Blattes war ein alter Gehaltsschein meiner Frau.
Ich zog oben an dem Formular und sagte dazu: „Das ist nur die Rückseite, die ist privat und ganz allein meine Sache.“
Sie ließ den Zettel los und ich ging grußlos von dannen. Im Buch „Guten Morgen, Tel Aviv!“ von Katharina Höftmann las ich bereits, dass man in Israel oft resolut auftreten muss, sonst geht man unter. Auch das wollte ich selbst erfahren.
Ich hatte schon Bedenken, dass die Sicherheitsbeamtin mich per Funk bei der regulären Passkontrolle als verdächtige Person meldet und ich näher untersucht werde. Dem war nicht so.
Wegen des momentanen Schabbat fuhren keine Busse und keine Sherut-Taxis nach Tel Aviv.