Reiten wir!. Tommy Krappweis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tommy Krappweis
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783944180885
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sie hätten ihn immer wieder einmal in diesen Wäldern gesehen. In der Sprache der Weißen nennen sie ihn Old Faithful

      Jack zog ein verwirrtes Gesicht, und Ellen fuhr fort: »Den Namen hat er bekommen, weil sie glauben, dass er meine Nähe sucht. Es heißt, dass er all die Jahre über immer noch so jung aussieht, wie zu der Zeit, als er starb. Aber mir selbst ist er nie erschienen, kein einziges Mal.«

      »Er hat mir das Leben gerettet«, wiederholte Jack.

      Ellen lächelte traurig. »Er erscheint denen, die sich aus Tollkühnheit in große Gefahr bringen, zur Warnung. Aber ich habe noch nie davon gehört, dass er zu jemandem gesprochen hat.«

      »Ich bringe dich zu ihr, in Sicherheit, das hat er gesagt!«, brach es aus Jack hervor. Diesmal gelang es ihm trotz seiner Schmerzen, seinen Oberkörper aufzurichten. »Daran erinnere ich mich noch genau.«

      Ellen starrte ihn wortlos an. »Versuch dich ein wenig auszuruhen«, sagte sie schließlich und erhob sich. »Ich habe dich für den Moment schon genug aufgeregt. Hast du Verwandte, die wir benachrichtigen können?«

      Jack schüttelte den Kopf.

      »Dann bleib so lange bei uns, wie du willst. Du bist hier in Sicherheit, wie er es dir versprochen hat.« Sie lächelte. »Über alles Weitere reden wir, wenn du wieder zu Kräften gekommen bist.«

      Der Junge auf dem Krankenlager sah aus, als ob ihm noch viele Fragen auf der Zunge brannten, die er aber aus Erschöpfung hintenan stellte. Er bettete seinen Kopf zurück auf die Felle.

      Ellen verließ ihr Tipi. Noch war die Morgendämmerung nicht angebrochen. Sie erreichte den Rand der Siedlung und blickte nach Osten, wo sich in der Dunkelheit die von dichten Wäldern bewachsenen Höhenzüge Montanas verbargen.

      »Tom«, flüsterte sie kaum vernehmbar. »Ich habe dich nie vergessen. All die langen Jahre über hast du dich anderen gezeigt, niemals mir. Sie hätten dich nicht beschreiben müssen. Ich habe dein Aussehen immer noch genau vor Augen.«

      Sie hielt inne. »Aber du hast diesen Jungen zu mir geschickt, damit ich mich um ihn kümmere. Bedeutet das, dass es endlich so weit ist? Dass du mir verzeihst? Hast du deinen Frieden gefunden?«

      Es erklang keine Antwort. Nur ein leichter Wind war aufgekommen, der wispernd durchs Gras fuhr und die Morgendämmerung ankündigte. Für Ellen klang er wie ein einziges, kaum vernehmbares Wort.

       Vergebung.

       DER GEIST DES LANGEN ERKENNENS

       HERMANN RITTER

      Mein Kopf schmerzte schrecklich. Vor mir tanzten bunte Lichter. Ich versuchte, mich auf sie zu konzentrieren. Dabei stellte ich fest, dass die Lichter auf der Innenseite meiner Lider tanzten. Meine Augen waren fest geschlossen. Vorsichtig öffnete ich sie. Ich blinzelte einmal, dann noch einmal. Es war stockdunkel um mich herum. Ich schloss die Augen erneut.

      In meinem Mund schmeckte ich Metall. Voller Freude stellte ich fest, dass ich meine Hände bewegen konnte. Langsam schob ich den rechten Zeigefinger in den Mund. Beim Abtasten meiner Zähne stellte ich fest, dass ich mir in das Zahnfleisch gebissen hatte. In meinem Mund war Blut. Aber meine Zähne waren alle noch in Ordnung.

      Mit der rechten Hand suchte ich nach einer Stütze. Ich fand kalten Steinboden. So aufgestützt, drehte ich mich ein wenig nach links, wobei mein Kopf wieder anfing zu schmerzen. Mit einem lauten Röcheln zog ich den Schleim aus dem Hals hoch und spuckte einen beeindruckend großen Schleim-Blut-Klumpen aus. Leider konnte ich nicht sehen, wo ich ihn hinspuckte.

      Es war Zeit für eine Bestandsaufnahme. Um mich herum war es hoffentlich dunkel – sonst hatte ich mein Augenlicht verloren, was eine viel schlimmere Vorstellung war. Konnte man blind noch Lichter in den Lidern sehen? Ich wusste es nicht, setzte es aber die Liste der Dinge, die ich bei Gelegenheit mal in der Leihbibliothek nachlesen musste. Oder den Schulmeister danach fragen …

      Ich versuchte, mich nur selbst abzulenken, um über die Möglichkeit einer Erblindung nicht nachdenken zu müssen. Meine Bestandsaufnahme schritt weiter voran. Meine Beine waren voller blauer Flecken und Abschürfungen, soweit ich das ertasten konnte. Meine Arme fühlten sich an, als hätte ich versucht, an einem Seil hinter einer Kutsche hergezogen zu werden, während diese die Straße zum Jagdforst hinauf jagte. Auf meinem Kopf hatte ich mindestens eine Beule, die aber erklärte, warum ich mich nicht erinnern konnte, wie ich hierhergekommen war.

      Auf einmal konnte ich mich an die Straße in den Jagdforst erinnern. Der Friedewald mit seinen langen Schneisen, die wie mit einem warmen Messer durch kalte Butter in den Forst geschnitten worden waren. Ich war auf dem Weg zum Hellhaus gewesen. Warum eigentlich? Ich versuchte mich auf diese Frage zu konzentrieren, aber in meinem mürben Gehirn gab es keine befriedigende Antwort.

      Eine Abkürzung. Auf einmal fiel es mir wieder ein: Ich hatte eine Abkürzung durch den Wald ausprobieren wollen. Irgendwie quer durch den Wald, an ein paar Wegmarken vorbei, um Zeit zu sparen. Hatte ich nicht noch überlegt, ob ich aufpassen müsse wegen des schlechten Lichts? Hatte ich nicht noch bei mir gedacht, dass es im Herbst doch früher dunkel wurde, als im Sommer und dass ich mich beeilen müsste, um bei guten Licht mein Ziel zu erreichen?

      Was war es gewesen, weswegen ich gestolpert und gefallen war? An welchem Ort hatte mein Weg ein jähes Ende genommen? Am alten Tunnel an der Hohen Burg? Oder lag ich im Rübenkeller oder gar im Eiskeller des Tiergartens? War ich gar in einen der Abflüsse gefallen, deren ummauerte Eingänge immer wieder wie offene Schlünde im Waldboden auftauchten?

      »Nein. Es war keine von diesen Höhlen.«

      Ich erschrak bis in das Mark hinein. Entweder, ich hatte laut gesprochen oder ich fing an, mir Stimmen einzubilden. Beides ließ darauf schließen, dass meine Kopfverletzung schlimmer war, als ich bis jetzt vermutet hatte. Oder war ich nicht nur blind, sondern auch verrückt?

      »Nein. Es ist keines von beiden.«

      Wieder diese Stimme. Doch dieses Mal war ich weniger überrascht als bei ihrem ersten Erklingen. Sie hatte einen tiefen, sonoren Klang, hörte sich eher wie der Pfarrer an, wenn dieser einen guten Tag hatte. Was, unter uns bemerkte, selten genug vorkam. Aber nein, das war es nicht. Es war nicht nur die Stimmlage, die angenehm klang, anders als bei der Predigt in der Kirche. Es war der Dialekt, die Grundsprache, die einer anderen Melodie zu folgen schien als mein eigener Dialekt. Während ich oft das Gefühl hatte, dass meine Art, das Deutsch auszusprechen, ein wenig langsam, ein wenig gemächlich klang, war es hier ein härteres Deutsch, mit klareren Vokalen und kürzeren Konsonanten, die wie ein Scherenschnitt viel mehr Kontur zeigten, dabei aber ganz viel Farbe und damit auch Wärme vermissen ließen. Das war nicht die Sprache, die im Wirtshaus oder in der Kirche gesprochen wurde. Das hier war reines, fast schon fehlerfreies Hochdeutsch. Wenn ich schon den Verstand verlor – warum sprach der Irrsinn nicht Sächsisch?

      Vorsichtig versuchte ich, ein Auge halb zu öffnen. Es dauerte einen Moment, bis ich mich entscheiden konnte, ob das Licht von außen kam oder immer noch flackernde Irritationen auf der Innenseite der Lider mein Sehvermögen trogen. Aber da war etwas: Ich konnte sehen. Es war erst ein flackerndes Licht, dann zogen sich die Ränder der Wahrnehmung zusammen, die Bilder wurden schärfer. Es handelte sich um eine Laterne, oder eher ein Windlicht. Denn die Lichtquelle war eine Kerze, nicht etwa Gas. Die Kerze brannte hinter einer Glasscheibe der Laterne ruhig und still vor sich hin. Von ihr ging ein milder Schein aus, der aber nicht stark genug war, um mir zu zeigen, wo ich mich befand. Und den Ursprung der Stimme, mit der ich mich eben unterhalten hatte, konnte ich ebenso wenig ausmachen.

      Dabei war es keine echte Unterhaltung gewesen. Ich hatte doch nur gedacht, was ich sagen wollte, und hatte darauf eine Antwort erhalten. War das alles hier ein Alp, und ich lag verschwitzt in meinem Bett und wartete darauf, dass ich morgen wieder hinaus musste in den Forst? Oder lag ich im Sterben, den Schädel zerschlagen