LIEBER FREUND DER ABENTEUERGESCHICHTE,
Sie halten gerade ein Buch in den Händen, von dem ich nie gedacht hätte, dass es einmal Wirklichkeit werden würde. Doch bevor ich Sie auf den Weg zu den Lagerfeuern der Prairie schicke, wo Geschichtenerzähler Sie erneut in die Welt von Old Shatterhand, Winnetou und Sam Hawkens entführen, möchte ich Ihnen die Geschichte dieses Buches erzählen. Zeigt Sie doch, dass auch 175 Jahre nach der Geburt Karl Mays sein Werk weiterhin Autoren prägt.
Ich muss Ihnen aber ein Geständnis machen: Auch wenn ich mich heute als Phantast bezeichne, aber »My heroes have always been Cowboys«. Als Kind der 70er Jahre wuchs ich mit Bonanza, Rauchende Colts, Dem Mann in den Bergen, John Wayne und Audie Murphy auf. Natürlich war da auch immer Raumschiff Enterprise, Catweazle und Mondbasis Alpha 1, aber zur Familientradition gehörte es, dass jeder Western, der – auf den damals 2,5 Kanälen (der halbe war reichlich verrauscht) – lief, auch geschaut wurde, und zwar mit besonderer Andacht. In den 70er Jahren wurden auch die Karl-May-Filme zum ersten Mal im Fernsehen ausgestrahlt und Sie können sich denken, was diese Filme für eine Wirkung auf einen kleinen Jungen hatten. Daher war es auch keine Frage, dass wir in das benachbarte Elspe zu den Karl-May-Festspielen fuhren, nachdem bekannt wurde, dass man dort Pierre Brice als Winnetou engagiert hatte. Wer einmal so eine Aufführung besucht hat, kann verstehen, welcher Zauber dort gewoben wurde und bis heute gewoben wird. Waren die Western im Fernsehen zwar spannend und mitreißend, so waren sie doch weit weg, hinter einer Glasscheibe. Auch eine Schießerei aus einem winzigen 8-Watt-Lautsprecher an der Seite des Gerätes ist wenig beeindruckend. Aber in Elspe … Dutzende echte Pferde, die im wilden Galopp von links nach rechts über die mehr als 100 Meter breite Bühne reiten, echte Schlägereien, bei denen die Banditen auch mal vom Bühnenrand ins Publikum fielen, Explosionen, die einem die Ohren klingeln ließen und deren Hitze man auf der Haut spürte … Und dann natürlich dieser Moment, in dem Winnetou – DER WINNETOU – über den Berg ritt und seinen Freund begrüßte. Mir war damals völlig klar, dass er nur mich mit diesem Gruß meinen konnte. Mir kam allerdings Old Shatterhand zuvor, der »Winnetou, mein Bruder« rief und Winnetous Aufmerksamkeit von mir ablenkte. Am Tag nach dieser Vorstellung betrat ich die örtliche Bücherei und verließ sie mit sechs Karl-May-Büchern wieder. Dies wiederholte ich so lange, bis ich alle gelesen hatte. Über zehn Jahre lang besuchte ich jede Aufführung, bis die Wirren der Jugend mir einredeten, dass ich jetzt zu »alt für diesen Kinderkram« sei. Noch mal zehn Jahre später und ich setzte meine jährliche Pilgerfahrt wieder fort – und das bis heute.
Natürlich mögen die Karl-May-Forscher nun einwenden, dass die Stücke bei diesen Festspielen nur wenig mit Mays Büchern zu tun haben. Dem möchte ich zustimmen, aber auch widersprechen. Sie sind nicht werksgetreu, aber sie sind dem Zauber treu, den May beim Lesen bereitet hat, nämlich Abenteuer zu erleben und an das Gute im Menschen zu glauben. Ich war May auch nie böse, dass er bei seinen Erzählungen sich selbst als Old Shatterhand ausgegeben hat, denn – Hand auf Herz – wer hat denn nicht versucht, seinen besten Kumpel zu überzeugen, dass eine Blutsbrüderschaft unbedingt von Nöten war, um sich des Vertrauens des anderen wirklich sicher zu sein? Mit reichlich stumpfen Schweizer Taschenmessern geritzt, aber es ging um das Prinzip! Wir waren auch Old Shatterhand oder Winnetou, da gab es doch nie einen Zweifel!
Zudem sind »Tall Tales«, also Lügengeschichten auch eine alte Tradition des Wilden Westens. Einer der größten historischen Geschichtenerzähler war Jim Bridgers (1804-1881). Seine Entdeckungen als Scout und Trapper sind legendär. Er sah als erster Weißer den Yellow Stone und den großen Salzsee. Der nach ihm benannte Bridgers Pass verkürzte den Oregon Trail um 61 Meilen. Bridger liebte es, den Greenhorns Geschichten zu erzählen und sie dabei auf den Arm zu nehmen. In einer seiner liebsten Geschichten wurde er von über hundert Kriegern der Cheyenne verfolgt. Nachdem sie ihn mehrere Meilen gejagt hatten, fand er sich am Ende eines Canyons wieder, aus dem es kein Entrinnen gab. Die Indianer hatten ihn eingekesselt. Alles ging dem Ende zu. An diesem Punkt der Geschichte schwieg Bridger und wartete auf die Frage seiner Zuhörer.
»Was passierte dann, Mr. Bridger?«, kam die atemlose Frage aus dem Publikum.
Bridger antwortete: »Nun, sie töteten mich.«
Die Idee zu dieser Anthologie kam mir vor ungefähr vier Jahren, nachdem ich den Schatz im Silbersee erneut gelesen hatte. Zum ersten Mal ging mir richtig auf, dass auch jede der Nebenfiguren so unglaublich bunt war und voller Geschichten steckte, sodass ich es bedauerte, dass es nicht mehr über die skurrilen Helden am Rande zu erfahren gab. Einen Umstand, den es zu ändern galt.
Welche Autoren könnte ich für diese Anthologie gewinnen? Es sollten Phantastikautoren sein, denn für mich lebt diese besondere Fabulierkunst Mays vor allem in den phantastischen Welten weiter. Aber es sollte kein Phantastikbuch werden, sondern eine Hommage an die Abenteuergeschichten, die einen als Kind aus der Welt entrissen und die Weide oder den Parkplatz von nebenan zur Hochebene des Llano estakados werden liessen.
Letztendlich fanden sich 23 Autoren, um die Geschichte von Tante Droll, Hobble-Frank und Ellen weiterzuerzählen. Diese drei Helden sollen ein roter Faden sein, der die Abenteuer in der Anthologie verbindet.
Falls sie diese drei noch nicht kennen, so möchte ich Sie ihnen kurz vorstellen:
Hobble-Frank (Bürgerlich: Heliogabalus Morpheus Edeward Franke) hält sich für gebildet, deutlich gebildeter als seine Mitmenschen. Dabei wirft er aber vieles durcheinander und kann schnell aufbrausend werden, wenn man ihn auf diese Fehler aufmerksam macht oder ihn gar verbessert. Auch wenn er ein Pfau im Gehabe ist, so wird er doch als ehrlicher und zuverlässiger Freund geschätzt.
Sein Vetter Tante Droll (Bürgerlich: Sebastian Melchior Pampel) Tante Droll ist von kleinem, dicklichem Wuchs, dabei bekleidet mit einem ledernen, sackartigen Gewand, das aussieht wie Frauenkleidung. Da er kaum Bartwuchs hat und er mit einer hohen Fistelstimme spricht, erklärt es sich leicht, wie er zu seinem Spitzamen gekommen ist. Abgesehen von diesen Äußerlichkeiten ist er ein äußerst fähiger Westmann und im Gegensatz zu seinem Vetter Hobble-Frank ein eher ernster Mensch.
Damit die Welt nicht zu maskulin wird, gesellt sich noch Ellen zu diesen beiden.
Ellen ist die Tochter von Old Firehand (in der Originalfassung von 1875) und dessen zweiter Frau Ribanna, die große Liebe von Winnetou. Nach der Ermordung Ribannas lehrt Winnetou das Mädchen alles, was man im Wilden Westen können und wissen muss.
Der eigentliche rote Faden ist aber der Geist der Abenteuergeschichte. Dies nostalgisch-süße Gefühl, wenn man sich mit einem Karl-May-Roman in eine Ecke verzog und in dieser Welt versank. Daher werden sie Geschichten lesen, in denen diese drei Helden nur am Rande auftauchen, bei anderen wiederum stehen sie im Mittelpunkt. Allen gemeinsam ist aber die Lust am Abenteuer. Manche Geschichten mögen sich widersprechen, denn es wird viel erzählt an den Lagerfeuern des Wilden Westens. Wer weiß schon, was der Wahrheit entspricht?
Die Geschichten in diesem Buch sind so unterschiedlich wie die Autoren: Mal spannend, romantisch, lustig, dramatisch oder tragisch. Es war nie das Ziel dieser Anthologie, authentische Karl-May-Geschichte neu zu erfinden, sondern den damals gefühlten Zauber neu zu entfachen. Jeder Autor sagt auf seine Weise »Danke« an einen der größten Geschichtenerzähler ihrer Jugend.
Dieses Danke drückt sich nicht nur in den Geschichten aus, denn alle Autoren und Illustratoren sind sich einig, dass die Erlöse dieses Buches dem Karl-May-Museum in Radebeul gespendet werden. Dafür möchte ich mich noch mal herzlich bedanken!
Nun bleibt mir nicht mehr, als Sie auf die Reise in einen Wilden Westen zu schicken, den es niemals gab und Ihnen viel Vergnügen zu wünschen!
Reiten Wir!
Alex Jahnke