Jack versuchte erneut, sich aufzurichten, doch seine Muskeln wollten ihm nicht gehorchen. Der brennende Schmerz in seiner Schulter füllte seine gesamte Wahrnehmung aus. Gelähmt vor Entsetzen starrte er das monströse Tier an, das sich ihm erneut näherte.
Da ertönte eine weitere helle Stimme über den Hang hinweg.
»Big Boy, hey Big Boy! Komm her!«
Jack wandte mühsam den Kopf. Aus der Richtung des Waldes, den sie durchquert hatten, hatte ein junger Mann den Hang betreten. Er war bestimmt nicht älter als achtzehn oder neunzehn Jahre. Sein weizenblondes Haar hing ihm tief in die Stirn. Trotz der Kälte trug er nur ein Baumwollhemd über der abgewetzten Denim-Nietenhose eines Farmers. Wie eben noch O'Reilly winkte er wie wild mit beiden Armen, um die Aufmerksamkeit des Bären zu bekommen.
Big Surly hatte Jack beinahe erreicht. Der Junge konnte den intensiven Gestank von feuchtem Fell und Urin wahrnehmen, der von dem riesigen Grizzly ausging. Der Kopf des Bären senkte sich auf ihn herab, als der Fremde das Tier erneut anrief. »Komm schon, alter Junge! Hierher!«
Neugierig hielt Big Surly inne, dann machte er eine Kehrtwende. Der Fremde winkte und stieß einen weiteren Schrei aus, bevor er sich umdrehte und im Wald verschwand. Eilig folgte ihm der Grizzly, aber mehr wie ein zahmer Hund als ein wütendes Untier, das Blut sehen wollte.
Jack war zu erschöpft, um sich darüber zu wundern. Die Konturen der Landschaft um ihn herum verblassten zu milchigem Grau, und ihm schwanden die Sinne.
Als er die Augen wieder aufschlug, hatte der junge Mann sich über ihn gebeugt und begutachtete seine Schulter.
»Keine Sorge, Big Surly ist fort«, sagte er. »Und so schnell kommt er auch nicht wieder. Kannst du aufstehen?«
Jack nickte. Der junge Mann half ihm auf die Beine.
»Was – was ist mit O'Reilly?«, fragte Jack heiser.
Der Fremde, der ihn gerettet hatte, schüttelte nur knapp den Kopf. Er begutachtete die Verletzung des Jungen. Seine ernsten Augen besaßen die Farbe von Schiefer. »Du hast eine Menge Blut verloren. Wenn deine aufgerissene Schulter nicht schnell versorgt wird, dann wirst du sterben. Komm mit mir.«
Jack fühlte, wie der Fremde ihn stützte. Er stolperte neben ihm den Pfad entlang, den er mit O'Reilly gekommen war. Sein Blick fiel auf den Leichnam und die polierte Winchester, die den Trapper im entscheidenden Moment im Stich gelassen hatte. Nutzlos lag sie neben ihrem Besitzer am Boden. Sein Begleiter würdigte weder O'Reilly noch das Gewehr neben ihm eines Blicks. Im nächsten Moment waren sie vorbei, und Jack schien, als gehörte der Tote bereits zu einer weit zurückliegenden Vergangenheit.
Der Fremde half Jack dabei, auf O'Reillys Pferd zu steigen, wobei der Junge vor Schmerzen beinahe das Bewusstsein verlor. Wie durch einen grellroten Schleier nahm Jack wahr, dass der Mann das Maultier mit einem Strick an den Sattel des Pferdes band. Er selbst setzte sich hinter den Jungen auf das Pferd.
»Halte durch!«, hörte Jack ihn mit eindringlicher Stimme sagen. »Ich bringe dich zu ihr, in Sicherheit.«
Jack Hammond versuchte angestrengt etwas zu erwidern. Er wollte den jungen Mann nach seinem Namen fragen, danach, wo er so unvermittelt hergekommen war, wieso Big Surly ihn nicht angegriffen hatte, und zu wem der Fremde ihn brachte. Aber seine Zunge fühlte sich dick und heiß an, und es wollten ihm keine zusammenhängenden Worte über die Lippen kommen. Er sackte über dem Tier zusammen und ahnte mehr, als dass er es spürte, wie Hände ihn festhielten, sodass er nicht zu Boden fiel. Dann stieg Dunkelheit vom warmen Rücken des Pferdes auf und verschluckte ihn.
III
Ellen Winter blickte auf den Jungen herab, der nahe der Feuerstelle auf mehreren Fellen lag. Seine offene Schulter war mit Moos und Baumrinde bandagiert. He-hun Tungah, Große Eule, der sich auf Heilkunst verstand und mit den Geistern sprach, war guter Dinge, dass der Junge überleben würde. »Er ist dünn wie Gras, das der Wind bewegt«, hatte er gesagt, als er Ellens Tipi verließ, »aber er ist auch stark wie Gras, das sich wieder aufrichtet, wenn der Büffel fort ist.«
Als ob der Junge geahnt hätte, dass sie ihn betrachtete, schlug er unvermittelt die Augen auf. Sein verstörter Blick verriet ihr, dass er nicht wusste, wo er sich befand.
»Alles ist in Ordnung!«, sagte sie beruhigend. »Erinnerst du dich an mich? Ihr seid vor ein paar Tagen an unserem Dorf vorbeigekommen.«
Der Junge runzelte die Stirn, dann nickte er matt. Seine Anspannung löste sich ein wenig. »Wie …« Er leckte sich die spröden Lippen und setzte erneut an. »Wie bin ich hierher gekommen?«
»Ich hatte gehofft, dass du uns das erklären könntest«, erwiderte Ellen. »Kannst du mir deinen Namen sagen?«
»Jack«, antwortete der Junge. »Mein Name … ist Jack.« Er versuchte vergeblich, sich aufzurichten und verzog das Gesicht vor Schmerzen, bevor er sich auf die Felle zurücksinken ließ.
»Bleib besser liegen«, erwiderte Ellen. »Du bist noch sehr schwach, aber deine Wunden sind versorgt. Wir haben dich gestern Abend am Dorfrand gefunden. Jemand hat dich auf den Rücken eines Pferdes gebunden. War das der Mann, mit dem du unterwegs warst?«
Jack schüttelte den Kopf. »Nein, der ist –« Er stockte. »Er ist tot«, fuhr er schließlich fort. »Big Surly hat ihn angegriffen. Und dann kam dieser junge Mann … er hat mir das Leben gerettet. Er muss mich zu euch gebracht haben. Wo ist er? Ich will mich bei ihm bedanken.«
Ellen runzelte verwirrt die Stirn. Geduldig hörte sie Jack zu, wie er ihr mit stockender Stimme von der Attacke des Bären berichtete. Als er aber von seiner Rettung erzählte und den Fremden beschrieb, der ihm geholfen hatte, schlug ihr Herz schneller.
Mein Gott, er war es! Nach all der Zeit!
Sie gab sich Mühe, sich ihre Erregung nicht anmerken zu lassen. Doch die Art und Weise, wie der Junge auf dem Krankenlager sie ansah, verriet ihr, dass ihr das nicht besonders gut gelang.
»Du … kennst du ihn?«, fragte er sie.
Ellen holte tief Luft, dann nickte sie. Etwas schien sich in ihrer Kehle zu lösen, und sie blinzelte fest, um nicht vor dem Jungen in Tränen auszubrechen.
»Er war ein Freund. Vor sehr langer Zeit. Damals war ich so jung wie er. Und er – er sah genauso aus, wie du ihn erlebt hast.«
Jack starrte sie aus riesigen Augen an. »Aber das kann doch nicht sein! Wie ist das möglich?«
Sie presste ihre Lippen aufeinander, und nun musste sie doch den Kopf wegdrehen und sich mit der Hand über die Wangen wischen.
»Er … er ist tot, nicht wahr?«, fragte Jack vorsichtig. »Ist er so was wie ein Geist?«
»Wir mochten einander sehr«, antwortete Ellen, »aber es ist meine Schuld, dass er gestorben ist. Er hatte vor vielen Dingen Angst, und ich war sehr eingebildet. Ich nannte ihn einen Feigling, und dass ich nur etwas für jemanden empfinden könnte, der wirkliche Courage besäße.«
Sie sah Jack wieder an, der ihren Blick schweigend und gespannt erwiderte. »Er ließ sich auf