Kaum hatte ich mir all diese Bilder eingeprägt, als hätten sie sich eingebrannt in meine Erinnerung, waren sie wieder verschwunden.
»Ihr seht«, sagte der Fremde, »die dritte weise Frau hatte einen eigenartigen Humor.«
»Wie meind ihr das?«
»Ich darf nicht deuten, nicht empfehlen, nicht verwerfen, nicht kommentieren. Meine Handreichungen sind nur dazu da, um euch die Auswahl zu lassen. Ich darf nicht wählen, kann nicht wählen. Das ist mein Schicksal, so wie es euer Schicksal ist, wählen zu müssen.«
»Alle droi?«
Der Fremde lachte. »Irgendwie war mir klar, dass ihr diese Frage stellen würdet. Nein, das geht nicht. Ihr könnt nicht alle drei Wünsche haben. Denkt an die Märchen mit den Feen oder an die antiken Sagen. Ihr müsst eine Entscheidung fällen. Und wir wissen beide, dass eine Entscheidung für eine der drei die anderen beiden verprellen wird.«
»Heischd das, dass ich einen dobbelten Fluch auf mich lade, weil ich nur einen Wunsch annehme?«
»Ihr seid kein Prinz oder gar ein Halbgott. Ihr werdet auf jeden Fall ein Leben haben, in dem es immer wieder schwierige und schwere Momente gibt, egal, wie ihr euch entscheidet. Aber ihr habt gesehen, dass trotzdem ein Füllhorn über euch ausgegossen wird. Denn für jeden, der den Zauber einer Fee verpönt, gibt es fünf andere, die genau diesen Zauber annehmen und die Fee beschäftigen. Sie sind dickköpfig und nachtragend und manchmal etwas eigenartig, aber sie sind nicht bösartig.«
Und in diesem Moment war ich bereit, all das zu glauben – eine Welt voll mit Feen, die drei Abgesandte an meine Wiege geschickt hatten. Aber ich merkte auch, dass diese Weltsicht meine Entscheidung zu beeinflussen drohte. Eine Welt voller Zauber, eine Welt voller Wunder – war das nicht das, was mir nur in der dritten Vision beschieden worden war? Wenn ich daran glaubte, dass es möglich war, dann konnte es mir geschehen – mir, Heliogabalus Morpheus Edeward Franke, gebürtig aus Moritzburg im schönen Königreich Sachsen. Aber wenn ich schon drei Wünsche hatte, unter denen ich mich entscheiden musste, einen für jeden Vornamen – wie mag es da unserem sächsischen König, Friedrich August Albert Anton Ferdinand Joseph Karl Maria Baptist Nepomuk Wilhelm Xaver Georg Fidelis von Sachsen ergangen sein, als er sich entscheiden musste?
Das war Blödsinn. Ich drückte mich nur darum, dem Fremden eine Antwort zu geben. Denn tief in mir spürte ich, dass ich mich längst entschieden hatte.
»Ich will das Abendeuer, ich wähle die Zukunfd mit Siech und Niederlage, mit Hoffnung und Verzweiflung, mit Reisen in ferne Länder mit all den Folgen, die es für mich haben könnde.«
Der Fremde nickte. »So sei es. Aber eine Warnung noch: Glaubt nicht, dass jeder diesen Traum leben darf. Der Zauber wird schwächer von Jahrhundert zu Jahrhundert – und die drei guten Frauen haben schon lange gelernt, dass Fürsten und Könige wenig Interesse an ihnen haben. Diese folgen einem anderen Herrn.« Er räusperte sich. »Ich hole zu weit aus. Das alles hat mit euch nichts zu tun. Nehmt es so: In euch ruht ein Zauber, der es euch erlaubt, in einem Märchen zu leben – in einer Zeit, in der es eigentlich keine Märchen mehr gibt. Euer Schicksal, eure Geschichten, die künden von jemandem, der träumen konnte. Der etwas wagte, was viele andere Menschen nicht riskieren – das hinter sich zu lassen, was bekannt ist, um das zu erfahren, was unbekannt ist.« Er stockte kurz. »Auf eine gewisse Art beneide ich euch. Alles Gute dir, du Träumer aus Moritzburg.
Mir fielen die Augen zu.
Man fand mich am nächsten Morgen am Boden eines Schachtes in der Nähe der Alten Helle. Ich war wohl auf dem Herbstlaub ausgerutscht und in den Schacht gefallen. Bei dem Sturz hatte ich mir den Kopf angeschlagen und war bewusstlos geworden. Die Feuchtigkeit und die Kälte hatten mir zugesetzt, sodass ich hohes Fieber hatte.
Ich schlief sieben Tage und Nächte im elterlichen Haus. Als ich erwachte, war meine Entscheidung klar. Ich blieb noch zwei Jahre in Moritzburg, um genug Geld zu verdienen, damit ich meinen nächsten Schritt bezahlen konnte. Dann wanderte ich nach Amerika aus.
Mein weiterer Weg ist bekannt, denn mein Freund Karl May hat sich entschlossen, zum Chronist meines Lebens zu werden. Doch diese Geschichte habe ich ihm nie erzählt. Denn der große May sollte nie erfahren, dass es alte, zutiefst eigenartige Mächte waren, die mein Schicksal gelenkt hatten. Ich war nie einer jener Edelmenschen, die er immer suchte – aber ich war immer ein Mensch geblieben.
Jetzt bin ich fertig mit meinem Leben. Es war prall gefüllt, so wie ein Leben nur sein kann. Manchmal habe ich daran gedacht, wie das wäre, mit Frau und Kind ein bürgerliches Leben zu führen oder einen großen Wald mein Eigen zu nennen, der tatsächlich mir und nur mir allein gehört. Doch ich habe diese Villa hier und meine Freunde und meine Erinnerungen.
Und jedes Mal, wenn ein Kind kommt und mich fragt, ob ich wirklich der Hobble-Frank bin und ob all die Geschichten wahr sind, die über mich erzählt worden sind – dann weiß ich, dass ich richtig gewählt habe.
FLIEGEN WIR!
FALKO LÖFFLER
Ellen machte die Hitze Nevadas nichts aus, sie mochte sie sogar. Doch sie trug auch ein leichtes Stoffgewand, das den gelegentlichen Windstoß, selbst wenn es warme Luft war, unter die Kleidung ließ und ihre Haut erfrischte.
Ihre beiden Begleiter allerdings waren angezogen, als erwarteten sie augenblicklich einen Wirbelsturm oder gar einen Blizzard. Unter ihren Gewändern musste es glühend heiß sein, doch es schien ihnen nicht das Geringste auszumachen.
»Aber natürlich könnte hier ein Wald wachsen! Diese Wüstenei muss doch nicht ewig so bleiben. Schau dir den Boden an. Mit ein wenig Mühe lässt er sich urbar machen.« Hobble-Frank ritt auf einem schwarzen Pferd, das er Mister Black nannte, voran und machte ausschweifende Handbewegungen. Dabei klimperten die Messingknöpfe an seinem Frack. Der Rest seiner Kleidung war ein indianisches Sammelsurium, von dem breitkrempigen Hut abgesehen, der mit Straußenfedern geschmückt war. Vielleicht lag es an diesem Hut, der so viel Schatten spendete, dass Hobble-Frank nicht einmal der Schweiß auf der Stirn stand.
Tante Doll, eigentlich Sebastian Melchior Pampel, reagierte auf die Behauptung seines Kameraden zunächst nur mit einem Grummeln. Er ritt hinter Hobble-Frank auf einem müden, braunen Klepper, der wohl lieber weiter die Feldarbeit in der Nähe von Reno verrichtet hätte, statt seinen Passagier durch die Ödnis von Nevada transportieren zu müssen. »Frank, ich weiß nicht, wann es passiert ist, aber dir muss ein verdammt großer Ast auf den Kopf gefallen sein, wenn du denkst, du könntest diesen trockenen Flecken Erde begrünen. Das wird in tausend Jahren nicht geschehen.« Tante Droll wurde so genannt, weil er ein sackartiges Gewand trug, das seine sowieso rundliche Form fast weiblich erscheinen ließ. Seine hohe Stimme und die Haare, die meist zu einem Dutt zusammengebunden waren, taten ihre Übriges dazu.
Die Beiden waren Vettern, doch so sehr Ellen sich in den vergangenen Tagen bemüht hatte, körperliche Ähnlichkeiten auszumachen, so wenig war es ihr gelungen. Sicher, sie waren beide Deutsche und von Natur aus eher blass, doch weder die Augenfarbe, noch die Nase, ja nicht einmal ihre Ohren hatten den Anschein von Ähnlichkeit. Von ihrem Körperbau ganz zu schweigen.
»Ich sage ja nicht, dass es leicht wäre; im Gegenteil, es wäre eine Mammutaufgabe, doch du solltest inzwischen gemerkt haben, dass unsere amerikanischen Freunde nicht vor großen Aufgaben zurückschrecken.«
Ellen zog leicht an den Zügeln, um ihren Schimmel langsamer ausschreiten zu lassen. Die Hitze mochte ihr nichts ausmachen, das endlose Geschwätz der beiden schon. Es vergingen keine fünf Minuten, in denen sie sich nicht beharkten, meist wegen irrelevanter Kleinigkeiten. Vorhin waren sie an einer Art Busch vorbeigeritten, die sie nicht eindeutig zuordnen konnten, und wenn Ellen nicht eingeschritten wäre, hätte es gut in einer Prügelei enden können. Hobble-Frank