»Ich meine ja nur, der Zeuge hier, Herr Mansour, hat doch erzählt, dass Amina beim Einsteigen kein Kopftuch trug, was für sie ungewöhnlich ist. Könnte es deshalb nicht doch sein, dass …?«
»Vollkommen ausgeschlossen, so etwas tut meine Tochter nicht!«, lautet die radikale Erwiderung des empörten Vaters.
Der inzwischen aus der Zelle entlassene Walid will etwas sagen, ein wütender Blick des Vaters gebietet ihm jedoch zu schweigen.
»Und über den schwarzen Bus können Sie wirklich keine näheren Angaben machen, Herr Mansour? Automarke, polizeiliches Kennzeichen, irgendwelche Aufschriften? Haben Sie vielleicht den Fahrer gesehen oder gar erkannt? Denken Sie bitte nach, es ist wichtig!«, insistiert Boie Hansen.
Mansour verneint. Inzwischen hat auch er das Protokoll unterschrieben. »Tut mir wirklich leid, ich habe das wohl wahrgenommen, aber in diesem Moment nicht überlegt, was es bedeuten könnte. Erst später, als ich den Grund für Walids wütendes Verhalten erfuhr, habe ich über die Bedeutung meiner Beobachtung nachgedacht und meinem Freund El-Karim davon erzählt.«
»Gut, dann gebe ich eben die Fahndung nach Amina mit dem wenigen, was wir haben, durch! Hoffen wir, dass all dies nur ein Missverständnis ist und Ihre Tochter bald wieder zu Ihnen zurückkommt, Herr El-Karim! Sollte dies der Fall sein, dann melden Sie es uns bitte sofort!« Boie Hansen steht auf, die Besucher tun es ihm gleich.
»Dann gute Nacht, meine Herren! Wir machen für heute Ladenschluss!«
3. Ein frohes Wiedersehen
Hallo, liebes Tagebuch! Dann wollen wir mal wieder! Jetzt, wo ich endlich von der Reise zurückgekehrt bin, muss ich unbedingt die Ereignisse der letzten Tage nachtragen. Wir waren zuletzt abends immer spät im Hotel und ich selbst viel zu müde, um noch zu schreiben.
Nili nimmt sich heute erneut ihr Tagebuch vor, in dem sie die wichtigsten und interessantesten Fälle festhält. Sie tut es damit ihrer Abuelita (Oma) Clarissa gleich, die schon seit früher Jugend die bedeutenden und intimsten Gedanken ihren Tagebüchern anvertraute und gelegentlich Tochter und Enkelin auch daraus vorliest. Nili erfährt dadurch immer wieder interessante Begebenheiten aus ihrer Familiengeschichte und von den ereignisreichen Tagen der Flucht der Großeltern Heiko und Clarissa, ihrer Mutter Lissy und ihrem Onkel Oliver aus Nazi-Deutschland sowie aus ihrem langjährigen bolivianischen Exil. In ihrem ersten Gymnasialjahr in Hamburg begann sie mit den Einträgen und hielt in unregelmäßigen Abständen alle jene Erlebnisse handschriftlich fest, die ihr bedeutend erschienen. Nach Antritt ihrer polizeilichen Karriere in Hamburg und anlässlich des jähen Endes einer Liebschaft unterbrach sie die Gewohnheit für längere Zeit und begann erst Jahre später, bereits zur Kriminaloberkommissarin befördert und nach Oldenmoor zurückgekehrt, erneut mit dem Schreiben. Heute aber tippt sie ihre Aufzeichnungen auf dem Laptop und speichert diese Berichte auf einer separaten, nur für sie selbst bestimmten Festplatte.
Also, der Reihe nach: Mein Team hat einen (alten!) neuen Fall zu bearbeiten, den aufsehenerregenden Glückstädter Doppelmord vor etwa eineinhalb Jahren. Ich kann mich an die furchtbare Tat erinnern, denn ich war zu jener Zeit noch im benachbarten Oldenmoor als Kriminaloberkommissarin tätig. Allerdings hatten wir nicht direkt mit dem Fall zu tun, denn der wurde von der Bezirkskriminalinspektion in Itzehoe bearbeitet. Deren damaligen Leiter, Kriminaloberrat Thumann, habe ich nur flüchtig gekannt, Staatsanwalt Pepperkorn lernte ich dagegen zusammen mit dem heutigen Bezirksleiter, Kriminaloberrat Heinrich Stöver (von seinen Mitarbeitern hinter dem Rücken ›Hein Gröhl‹ genannt) erst Monate später anlässlich des Mordfalls an den beiden Frauen im verbrannten Bauernhaus10 kennen. Beim Durcharbeiten der sehr umfangreichen Akte haben wir bezüglich der damaligen Ermittlungen einige Lücken festgestellt, denen wir jetzt nachgehen müssen. Eine davon betrifft den mysteriösen Renault mit belgischem Kennzeichen, in dem die Leichen gefunden wurden. Unklar ist nach wie vor, wie und von wem dieses Fahrzeug zum Fundort gebracht wurde. Das wollten wir nun nachholen und im belgischen Grenzort Bütgenbach, wo dieses Fahrzeug angeblich gestohlen worden war, herausfinden.
Wie verabredet holte ich meine Mitarbeiterin, Kriminalkommissarin Margrit Förster, in ihrer Wohnung in Kiel-Ellerbek kurz nach sieben Uhr morgens ab. Margrit ließ sich Anfang dieses Jahres von Hamburg zu uns versetzen, um hier für ihre an MS erkrankte Mutter zu sorgen. Während Margrits Abwesenheit kümmert sich eine Nachbarin um die kranke Frau. Sie ist eine pensionierte Altenpflegerin.
Da ich nicht so gern auf der meist durch den Berufsverkehr verstopften Autobahn A 7 fahre, programmierten wir auf dem Navi eine alternative Route für unsere Fahrt nach Belgien, die uns hauptsächlich über Bundesstraßen führte. Wir befanden uns bereits kurz vor Itzehoe – wir wollten die Elbe mit der Fähre von Glückstadt nach Wischhafen überqueren –, als uns ein Anruf meines Waldi erreichte: Es habe in Oldenmoor gestern Abend eine Vermisstenmeldung gegeben. Ein Zeuge habe beobachtet, wie eine ihm bekannte Siebzehnjährige namens Amina El-Karim in einen fremden Wagen eingestiegen sei. Seitdem fehle von ihr jedes Lebenszeichen. Waldi meinte, wir sollten auf unserem Weg kurz in Oldenmoor Station machen und bei meinem ehemaligen Kollegen, dem Dienststellenleiter Polizeihauptkommissar Boie Hansen, nähere Informationen einholen.
Ich rief sofort zu Hause in unserem Onkel Suhls Haus an und kündigte meiner erfreuten Abuelita unser baldiges Eintreffen zum zweiten Frühstück an.
Wir wurden wie immer von meinen Kollegen der Dienststelle sehr herzlich begrüßt. Es war zudem ein freudiges Wiedersehen mit meinem ehemaligen Mitstreiter KOK Willi Seifert (sein Begrüßungskommentar – »Typisch Nili! Sie muss wohl mit ihrer berühmten Spürnase mal wieder gerochen haben, dass es bei uns etwas Brisantes zu ermitteln gibt!« – hat mir großen Spaß bereitet).
PHK Boie Hansen berichtete ausführlich von den gestrigen Ereignissen um das mysteriöse Verschwinden der siebzehnjährigen Amina El-Karim und dem furiosen Aufstand ihres jüngeren Bruders in der Wohnung ihres Klassenfreundes. Viel Neues konnten sie uns allerdings in der Dienststelle nicht erzählen, da inzwischen die Staatsanwaltschaft und Kollegen der Bezirkskriminalinspektion in der Großen Paaschburg in Itzehoe die Ermittlungen übernommen hatten und emsig nach der Vermissten suchten. Nachdem ich den Kollegen versprochen hatte, dass wir uns auf der Rückfahrt von Belgien wieder bei ihnen melden würden, fuhren wir weiter zum Onkel Suhls Haus. Abuelita und meine Ima begrüßten uns herzlichst; sie hatten Margrit ja bereits vor Kurzem kennengelernt, als wir alle gemeinsam im famosen ›Barockengel‹ des Kollegen Ferdl nach Kiel fuhren. Ich war etwas verwundert, meine Mutter im Hause anzutreffen, da sie üblicherweise um diese Zeit auf ihrem Geflügelhof beschäftigt ist. Abuelita hatte Ima sofort über meinen Anruf informiert und sie ließ es sich nicht nehmen, mich hier zu begrüßen. Es ist wirklich sehr berührend, dass wir drei uns derart gut verstehen und lieben und uns immer wieder über jede Stunde freuen, die wir miteinander verbringen können. Ima Lissy erzählte zu meiner riesigen Freude, dass sie gestern Abend durch den Anruf unserer Rechtsanwältin Kitt Harmsen erfahren habe, dass unsere Schutzbefohlene Habiba in der nächsten Woche endlich aus dem Jugendgefängnis in Schleswig entlassen werde, von wo sie sie selbst abhole. Ich sagte, ich würde sie gern begleiten, wisse aber noch nicht, ob ich zu diesem Termin freibekäme, wir haben ja im Moment alle Hände voll mit unseren zwei gleichermaßen brisanten Fällen zu tun!
Wir genossen die krossen und sehr aromatisch duftenden Huminta-Maiskuchenstücke mit Weißkäse, die Abuelita diesmal – mangels der Kolbenschalen, in denen die Teigportionen typischerweise eingewickelt und gebacken werden – direkt auf dem Blech in das Rohr geschoben hatte.11 Beim Essen kam natürlich der Grund unserer Spritztour nach Belgien zur Sprache. Auch meine Mutter und meine Großmutter konnten sich noch gut an den aufsehenerregenden Fall der beiden im Auto am Parkplatz der Elbfähre vorgefundenen Leichen entsinnen. Meine Ima bemerkte sogar, sie habe einmal ihren VW Taro in die Wewelsflether Werkstatt des Verstorbenen zum Service gebracht, weil die Vertragswerkstatt ihr hierfür keinen raschen Termin geben konnte. Sie hatte deshalb den Mechaniker Uwe Wilkens in guter Erinnerung und seinen gewaltsamen