»Der Herr Staatsanwalt hat recht!«, übernimmt Nili. »Ich habe darauf hingewiesen, dass wir unbedingt bei dem belgischen Auto ansetzen müssen, damit wir in der Sache weiterkommen. Wer auch immer den Renault angeschafft hat, ist meiner Ansicht nach der verantwortliche Täter. So stammt vielleicht auch der nicht identifizierte Revolver aus Belgien. Das könnte naheliegen, oder? Wenn es denn doch ein Auftragsmord gewesen sein könnte – in einem Ortsteil von Brüssel namens Molenbeek findet man bekanntlich eine starke Ansammlung sehr traditionsbewusster Muslime, davon ist ein großer Prozentsatz Marokkaner –, kam der mutmaßliche Berufskiller vielleicht ebenfalls von dort? Einige weitere, für mich bedeutende Hinweise aus der Fallakte hat man wohl nicht gebührend beachtet und andere überhaupt nicht erwogen. Aber ich werde diesmal gemein sein und euch diese nicht verraten! Ich bin gespannt, wer von euch zuerst darauf kommt!«
Nachdem der Staatsanwalt sich verabschiedet hat und in Begleitung von Waldi Mohr hinausgegangen ist, herrscht zunächst nachdenkliches Schweigen. Ferdl ist der Erste, der einen Ton von sich gibt: »Und was ham’s jetzt vor, Frau Chefin?«
»Ich denke, diesmal wird mich Margrit begleiten, und zwar nach Bütgenbach, dort sollten wir ansetzen. Zunächst werde ich aber meine Freunde in Antwerpen anmorsen, mit Sicherheit können sie uns schneller dabei helfen, die zuständigen Kollegen der dortigen kommunalen Polizei ausfindig zu machen, als wenn wir die langwierige Ochsentour über Europol gehen. Es ist immer besser, wenn man sich jede mögliche Unterstützung herbeiholt.«
»Und woher kennens diese Leit?«, fragt Ferdl neugierig.
»Das ist eine längere Geschichte. Bei einer meiner ersten LKA-Unternehmungen begleitete ich eine junge Anwältin – übrigens die Tochter unseres Herrn Oberstaatsanwalt Harmsen – auf einer längeren Erkundungsreise auf den Spuren des Kokains, die uns auch nach Antwerpen führte.2 Dort habe ich nette Freunde unter den Kollegen gewonnen, die uns sicherlich bereitwillig erneut gute Dienste erweisen werden.«
Robert Zander meldet sich zu Wort: »Ich glaube, ich habe den ersten der von Ihnen erwähnten Links aufgeschnappt, Nili. Kann es sein, dass Sie die bei dem männlichen Toten festgestellte Sedierung meinten, die mit so einem …«, er scrollt auf seinem Monitor, um die Stelle zu finden. »Hier hab ich es, also das Schlafmittel Benzodiazepin mit den Wirkstoffen Temazepam und Triazolam, mit dem er wohl ausgeknockt worden ist? Ich meine, die Akte gibt uns keinerlei Hinweis, ob man die Herkunft des Medikaments überhaupt verfolgt hat.«
»Hab mi eh scho schlau g’macht, was des wohl für a Zeigs is!«, kolportiert Ferdl. »Hier steht’s! I les vor:
Benzodiazepine können als dämpfende Rauschmittel missbraucht werden und abhängig machen. Der Missbrauch ist gefährlich, insbesondere in Kombination mit anderen dämpfenden und atemdepressiven Arzneimitteln sowie mit Alkohol. Vielen Prominenten wird ein Benzodiazepin-(Über)gebrauch nachgesagt. So starb beispielsweise der Schauspieler Heath Ledger gemäß Autopsiebericht an einem Medikamentencocktail, der unter anderem die drei Benzodiazepine Diazepam, Temazepam und Alprazolam enthielt. Benzodiazepine werden auch als sogenannte ›Date Rape Drugs‹ – solche eher als K.O. bekannte Mittel – missbraucht und so weiter, und so weiter. Das Mittel ist zudem verschreibungspflichtig. Da hamma keine Hinweise g’fundn, ob des Deiwiszeig vom Toten selbst oder von saan Mörder g’stammt hab’n könnt!«
Nili schmunzelt. »Gut gebrüllt, ihr Löwen! Das ist eine der bedeutenden Spuren, die überhaupt nicht verfolgt wurden! Durch den Staatsanwalt erfuhr ich allerdings, dass weder die Ergebnisse der Spurensuche in Uwe Wilkens’ Wohnung noch die Befragung im Freundeskreis irgendeinen Hinweis auf einen solchen Drogenkonsum ergab. Dabei wurde es aber leider belassen. Nächste Frage: Woher also stammt das Schlafmittel, das dem Opfer vom Täter verabreicht worden sein muss, um es kampfunfähig zu machen?«
»Da das Mittel verschreibungspflichtig ist, müsste man doch die Ärzte der Umgebung befragen, wem sie es verschrieben, beziehungsweise die Apotheken, an wen sie ein solches ausgegeben haben. Aber nach mehr als eineinhalb Jahren?«, lamentiert Robert.
»Genau das ist eine der Aufgaben, mit denen ich Sie und Ferdl betrauen werde, während Margrit und ich uns in Belgien verlustieren.« Nili grinst. »Können Sie bei der Diakonie einen Betreuungsersatz für Ihre Mutter für etwa drei bis vier Tage anfordern, Margrit?«
Diese nickt und telefoniert sogleich mit ihrem Handy.
Offensichtlich genervt raunzt Robert: »Na schön, dann werden wir uns wohl oder übel auf die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen machen müssen! Was haben Sie sonst noch für uns auf Ihrem Zettel?«
»Ich suchte in der Akte vergeblich nach Hinweisen über den Verbleib von Uwe Wilkens’ Kfz-Werkstatt in Wewelsfleth wie auch nach seinem Pkw. Inzwischen habe ich beim Verkehrszentralregister des KBA in Flensburg nachgefragt: Es war ein VW Passat Kombi, Kennzeichen IZ-WW 205, Baujahr 1999, Farbe Grün Metallic. Er wurde vor drei Monaten zwangsabgemeldet, als die KFZ-Steuer überfällig war und auch nicht mehr entrichtet wurde, und ist nach deren Aktenlage auch nirgendwo aufgetaucht. Nach dem Fahrzeug wurde wohl niemals gefahndet. Wo ist es also geblieben? Und noch etwas: Wo wohnte Saadet Bassir bis zu ihrer Ermordung und was geschah danach mit ihrer Wohnung? Bitte kontaktiert die Eltern und auch die Glückstädter Kollegen, die müssten doch darüber nähere Auskünfte geben können. Also, macht euch bitte an die Hausaufgaben, ja? So, und jetzt rufe ich erst einmal in Antwerpen an!«
»Good afternoon, you are connected with the Federal Police in Antwerp, Belgium. Aspirant Commissaire de Police Arne Svensen speaking. May I help you?«
»Hi, Arne, rat mal, wer ich bin?«
»One moment please, I… Nili, my dear! Bist du das, really! Oh man, wonderful! How are you?«
»Ja, Arne, ich bin es, die Nili! Wie schön, dich zu hören! Bist du befördert worden? Hört sich ja prima an: Polizeikommissar-Anwärter! Herzlichen Glückwunsch!«
»Oh my God! Please wait, hier kommt gerade Klaus! Klaus, I bet you don’t guess who is on the line? Du glaubst ja nicht, wer hier spricht?«
»Guten Nachmittag, ich bin Commissaire de Police Klaus Stuckert. Mit wem spreche ich?«
»Hallo, Klaus! Hier ist Nili Masal! Wie schön, dass ich euch antreffe! Höre ebenso gern, dass auch du zum Polizeikommissar befördert worden bist, herzlichen Glückwunsch!«
»Hallo, Nili, wie schön, nach so langer Zeit wieder von dir zu hören! Wie geht es dir? Und was macht Kitt? Hat sie schon ihren Doktorhut?«
Und so geht es zunächst hin und her in den gemeinsamen Erinnerungen an den Besuch Nilis und ihrer Begleiterin während der vorjährigen Erkundungstour durch die bedeutendsten Umschlaghäfen der verschleierten Drogeneinfuhr in Europa. Das Telefongespräch erfährt seinen Höhepunkt, als dann auch noch der aus Costa Rica stammende Kollege ACP Javier Espinoza dazukommt, denn von da an findet die Unterhaltung in radebrechend flottem Spanisch statt, eine Sprache, die Nili ebenfalls fließend beherrscht. Schließlich gelingt es ihr, auf den Grund ihres Anrufes zu kommen. Ausführlich berichtet sie CP Stuckert von dem Glückstädter Doppelmord und dem Renault mit belgischem Kennzeichen, in dem die Leichen aufgefunden wurden. Für ihre und Margrits für morgen geplanten Reise nach Bütgenbach bittet sie Klaus um Amtshilfe und Unterstützung.
»Selbstverständlich helfen wir dir gern, werte Kollegin! Schließlich hast du noch eine Menge gut bei uns, weil du uns geholfen hast, den Containerklau im Hafen aufzuklären! Ich rufe gleich bei den Kollegen der Police Locale in Bütgenbach an, um deinen Besuch anzukündigen, und spreche auch mit unserem Chef CDP Robbe van Dongen – der ist inzwischen zum Commissaire Divisionnaire de Police befördert worden –, um ihm vorzuschlagen, dass dich einer unserer hiesigen Leute begleitet. Also, meine liebe Nili, schön, dass du dich gemeldet hast! Vielleicht kommst du mal wieder