Wortlos lauscht der Familienvater den Ausführungen seines Sohnes. »Wo ist der Kombi?«, fragt er nach einer längeren Pause, in der er sich sichtlich bemüht, die Fassung wiederzugewinnen.
»Vor dem Wohnhaus der Familie Ewers«, antwortet Osman kleinlaut.
Jalil El-Karim steht auf und zieht sich Schuhe an. Dann holt er seinen Führerschein und den Zweitschlüssel des Mercedes. »Komm, wir gehen!«, sagt er zu Osman. Zeig mir, wo das ist!«
*
Vater und Sohn El-Karim klingeln wenig später an der arg lädierten Wohnungstür der Familie Ewers.
»Guten Abend, ich bin der Vater von Walid, der heute bei Ihnen bedauerlicherweise großen Aufruhr verursacht hat. Ich möchte mich im Namen meiner ganzen Familie für sein unmögliches Verhalten entschuldigen. Selbstverständlich komme ich für den verursachten Schaden auf und bitte Sie inständig, meinem Sohn zu verzeihen. Meine Tochter Amina ist verschwunden, und da wir wissen, dass Ihr Sohn in dieselbe Klasse geht und ihr ziemlich nahesteht, hat Walid etwas über ihren Verbleib erfahren wollen. Er fühlt sich als ihr älterer Bruder für sie besonders verantwortlich und ist wohl deswegen unnötigerweise ausgerastet, was ich zutiefst bedaure. Darf ich dennoch Ihren Sohn fragen, ob er uns darüber etwas sagen kann?«
»Ich bezweifle, Herr El-Karim, dass Jörg Ihnen nach diesem eklatanten Vorfall überhaupt etwas sagen will!«, antwortet der Vater. »Er ist vollkommen mit den Nerven herunter! Wir haben durchaus Verständnis dafür, dass Sie bezüglich des Verbleibs Ihrer Tochter besorgt sind, aber bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir solche wüsten Gebaren in unserer Gesellschaft weder akzeptieren noch dulden! Auch ich bin Vater und nehme deshalb Ihre Entschuldigung hiermit an. Auch werde ich auf eine Anzeige unter dem Vorbehalt verzichten, dass Sie und Ihre Söhne Jörg in Zukunft in keiner Weise mehr mit dieser Sache behelligen. Die Reparaturkosten für die beschädigte Wohnungstür lasse ich Ihnen zusenden und hoffe, dass damit die Angelegenheit erledigt ist. Guten Abend!«
»Wie gesagt, dies alles tut mir sehr leid, aber ich habe volles Verständnis und danke Ihnen, Herr Ewers!« Jalil El-Karim nickt. Er und Osman wenden sich ab, um zu gehen.
Als sie auf halber Treppe auf dem Weg nach unten sind, hören sie plötzlich hinter sich eine jugendliche Stimme – wie sich herausstellt, die von Jörg Ewers: »Und hören Sie doch bitte endlich damit auf, Ihre Tochter mit Ihren mittelalterlichen Ansichten zu schikanieren! Wir sind hier in Deutschland und nicht in Arabien, begreifen Sie das doch bitte, Herr El-Karim! Amina ist eine sehr nette Schulfreundin und hat so etwas wirklich nicht verdient!« »Verfluchter Kafir!«, murmelt Jalil auf Arabisch. »Was verstehst du schon von unserem, dem einzig wahren Glauben und unseren Sitten, du Hundesohn!«
Gerade als sie in seinen Mercedes Kombi einsteigen wollen, begegnet ihnen Achmed Mansour, der den kleinen arabischen Imbiss in der Kirchenstraße betreibt und sich auf dem Nachhauseweg befindet.
»Salam Aleikum, Jalil! Sag mal, was ist bei euch los? Ismail hat mir vorher erzählt, dass dein Sohn Walid von der Polizei verhaftet wurde, weil er hier in der Straße randaliert haben soll! Ich wollte dich sowieso noch anrufen, um dir zu sagen, dass ich heute Abend beobachtet habe, wie deine Tochter Amina an der Telefonzelle am Markt in einen Kleinbus eingestiegen ist.«
Jalil wird blass. Ihn verlassen die Kräfte, der Autoschlüssel fällt ihm aus der Hand und er taumelt. Osman kann seinen Vater gerade noch festhalten und ihn gegen den Wagen lehnen.
»Was sagst du da, Achmed?«, fragt Jalil, nachdem er sich gefangen hat. »Meine Amina soll in einen fremden Wagen gestiegen sein? Das kann doch nicht sein! Du musst dich geirrt haben!«
»Ja, Jalil, das dachte ich im ersten Moment auch, weil das Mädchen kein Kopftuch trug. Als sie aber in den Wagen einstieg, blickte sie mich furchtbar erschrocken an, und da habe ich sie erkannt! Dann schob sie rasch die Tür von diesem Bus zu, und der fuhr sofort ab. Den Wagen habe ich hier in der Stadt noch nie gesehen!«
Osman hebt die Autoschlüssel auf. Geistesgegenwärtig sagt er: »Abu Achmed, begleiten Sie uns doch bitte zur Polizei. Dort werden wir melden, dass meine Schwester entführt worden ist. Und wir müssen uns ja auch um Walid kümmern!«
»Aber mein lieber Osman«, Achmed Mansour schaut auf seine Armbanduhr, »es ist schon halb elf. Glaubst du wirklich, dass wir dort noch jemanden antreffen?«
»Die halten meinen Bruder in der Zelle fest. Schon deshalb wird irgendjemand dort sein, der auf ihn aufpasst!«
»Nun gut, wie du meinst! Lass es uns wenigstens versuchen! Aber gib mir besser die Autoschlüssel. Dein Vater kann ja nicht fahren, so aufgeregt, wie er ist!«
*
Wenig später parkt Achmed Mansour den Kombi der El-Karims vor der Polizeistation in Oldenmoor.
»Da ist noch Licht und ich hab soeben einen Polizisten am Fenster gesehen!«, sagt Osman. Die beiden Männer und der Junge steigen aus. Jalil läutet an der Türklingel. Polizeihauptkommissar Boie Hansen, der Dienststellenleiter, öffnet ihnen.
»Guten Abend, meine Herren, das ging aber schnell! Sie sind meiner Streife zuvorgekommen, die ich zu Ihnen nach Hause geschickt habe. Ich vermute, Sie sind Herr El-Karim, der Vater von Walid, und du bist sein Bruder, nicht wahr? Und Sie sind …?«, fragt er den Begleiter der beiden.
»Ich heiße Mansour, Achmed Mansour. Ich bin ein Freund der Familie El-Karim und möchte eine Zeugenaussage machen.«
»Na, denn kümmt man rin!«, sagt Boie Hansen und tritt zur Seite, um ihnen Einlass zu gewähren.
Als die drei vor seinem Schreibtisch Platz genommen haben, schaut Boie Hansen nacheinander in deren Gesichter. »Also, Herr El-Karim, da hat sich Ihr Herr Sohn ganz schön was geleistet, das muss man schon sagen! Ich weiß, ich weiß«, unterbindet er mit einer Armbewegung Jalil El-Karims Versuch, eine Erklärung abzugeben, »Ihr Sohn Walid hat mir bereits alles über das unerklärliche Ausbleiben Ihrer Tochter – wie hieß sie noch? Also ja, hier hab ich’s: Ihrer Tochter Amina – erzählt. Aber deswegen darf er doch nicht die Wohnungstür eines ihrer Klassenkameraden eintreten und einen solchen Aufstand machen, dass das ganze Haus zusammenläuft! Das bringt ihm mindestens eine Anzeige wegen schweren Hausfriedensbruchs nach Paragraph 123 Strafgesetzbuch ein! Insofern hat er Glück, denn er wird erst in zwei Tagen einundzwanzig, da geht’s gerade noch vor einen Jugendrichter! Es kommt auch darauf an, ob der Geschädigte Strafantrag stellt.«
»Ja, Herr Kommissar«, erwidert Jalil El-Karim, »ist mir bekannt. Aber ich habe soeben mit Herrn Ewers gesprochen und meinen Sohn entschuldigt. Er sagte, er wolle von einer Anzeige absehen. Ich werde den von Walid angerichteten Schaden an der Tür selbstverständlich bezahlen, das habe ich ihm versprochen!«
»Na, dann ist ja für Ihren Sohn alles glimpflich abgegangen! Bläuen Sie ihm aber ein, dass er sich in Zukunft zusammenreißen muss, sonst kriegt er Ärger mit uns! Wenn er diesmal auch straflos ausgeht, ist er immerhin als Wüterich aktenkundig geworden. Dann nehmen Sie also in Gottes Namen Ihren Filius wieder mit!« Boie Hansen will sich gerade mit dem Zellenschlüssel in der Hand erheben, als Polizeiobermeister Willi Seifert und Polizeimeister Dieter Klages eintreffen. Überrascht blicken sie auf das Besuchertrio.
»Na, da pliert ju, wat?«, sagt Boie Hansen. »De Mannslüüt sind jüm al vörafkömmt.9 Dieter, holst du bitte den Jungen raus? Er darf gehen!« Er übergibt dem Polizeimeister den Schlüssel.
»Einen Moment bitte, Herr Kommissar!«, meldet sich Jalil El-Karim zu Wort. Ich muss noch etwas Wichtiges anzeigen! Meine Tochter Amina wurde ganz sicher entführt! Der Herr hier ist Zeuge!«
Die drei Polizisten spitzen die Ohren und hören aufmerksam zu, während Achmed Mansour seine Aussage zu Protokoll gibt und Willi Seifert diese simultan in den PC tippt. Boie Hansen schaltet den Drucker ein und legt wenig später die beiden ausgedruckten Blätter El-Karim und Mansour zur Unterschrift vor.
»Und Sie sind sich absolut sicher, dass es sich dabei um eine Entführung handelt?«, fragt Willi Seifert erneut.
»Absolut