„Ich stehe auf in Gottes Kraft. Ich stehe auf in Christi Segen. So behüte mich Gott, die allerheiligste Dreifaltigkeit, die mich aus Nichts erschaffen hat, es behüte mich Gott, der Sohn, der mich mit seinem rosafarbenen Blut erlöset hat. Es behüte mich Gott der Heilige Geist, der mich …“
(Was klirrt da nebenan? Verzeihung, lieber Gott, immer diese unpassenden Gedanken zwischendurch!)
Lady Ethel hält kurz im Gebet inne und danach geht einfach alles ein wenig schneller als gewöhnlich, ja, im Sauseschritt, ohne, dass sie es bewusst steuert, diesen rituellen Gebetsfluss; er strömt dem Ende entgegen, ohne dass sie ihn aufhalten kann. (Neugierde, dein Name ist Weib! Wer hat das noch gesagt? Warum belästigen mich immer wieder diese Störenfriede?) Sie fährt fort! (Von diesen Bösewichtern lasse ich mich doch nicht unterkriegen!)
„… in der Heiligen Taufe geheiligt hat. Gott, dem Vater ergeb’ ich mich! Gott, der Heilige Geist, unterweise mich! Maria, Mutter Gottes, stehe für mich! Alle heiligen Engel beschirmet mich!“
Lady Ethels Hand bewegt sich schließlich noch purzelbaumartig im Kreis, beim hastigen Kreuzzeichenmachen, bevor sie die Türe zum Wohnraum zu öffnen versucht. Bei diesem Vorhaben knacken allerdings hörbar ihre Knochen, so dass sie mit der verpatzten Kreuzhand sogleich ihr eigenes Kreuz abzustützen sucht, denn eine zu eng geschnürte Gürtelschnalle beeinträchtigt sie in ihrer Beweglichkeit.
„Ach, du mein Gott …!“, entfährt es ihr beim Herunterdrücken der Klinke, „… auch das noch …?“ So schnell wie das Wehwehchen gekommen war, so schnell hat es allerdings auch wieder Reißaus genommen, als ihr eine strahlende Frau entgegen lacht, die gerade den dampfenden Kaffee in zwei goldverschnörkelte Tassen eingießt. „Wenn der Himmel uns dereinst solche wunderbaren Düfte bescheren sollte, dann kann ich’s kaum erwarten, zur Himmelspforte zu gelangen!“, ruft die Großmutter, wie ein Honigkuchenpferd strahlend zu ihrer Enkelin. „Was für ein Duft-Potpourri! Rosen, Kaffee, Quitten!“
Adelaine trägt an diesem Morgen eine spitzenbesetzte weiße Bluse, weil heute ein alter Herr mit ihnen zusammen dinieren wird, einer der Sorte Mensch, der besonderen Wert auf Etikette legt. Dieser Tatsache gebührend Rechnung zu tragen, das hatte ihr die Großmutter schon vor Tagen ans Herz gelegt. „Onkel Jacob liebt frische Muscheln! Und die soll er auch bekommen!“, lässt sie ihre Enkeltochter wissen, die sich gerade ihre Scheibe Weißbrot dick buttert, um anschließend einen Berg des köstlichen Quittengelees darauf zu verteilen. „Betrachte dir diese butterfarbigen Wildrosen! Dieses Farbenspiel, ist es nicht ein Gedicht?“ Und während Großmutters Augen sich an ihrem Gartenschatz nicht sattsehen können, an diesem Blumenschmuck, der seine schweren, doppelt gefüllten Blüten tief, fast bis auf die weiße Leinendecke, eine besonders edle von besagter Dutzend-Sorte, herunterschweben lässt, da flüstert die alte Lady ihrer Enkelin zu: „Jetzt schlägt’s aber dreizehn! Thema ‚Hochzeit‘ ist angesagt!“
„Grandma, du hast dich vertan! Die Uhr hat gerade neune geschlagen!“ Adelaines Blick geht zur Großmutter, die ein Lächeln nicht unterdrücken kann, und streift dann die Wanduhr, ehe er schließlich auf der Wanddekoration haften bleibt.
„Adelaine, mein liebes Kind, kennst du die Teppich-Geschichte von unserer Hochzeit schon?“
Adelaine schüttelt den Kopf. Es ist ein Kopfschütteln zwischen zwei Welten, genauer gesagt, ein Kopfschütteln zwischen einem Ja und einem Nein, ein undefinierbares Oben-, Unten-, Rechts- und Links-Schütteln, denn das junge Mädchen scheint ein deutliches Ja oder ein noch deutlicheres Nein umgehen zu wollen. Schließlich möchte sie allzu gerne ihre Großmutter zum Erzählen herausfordern, auch wenn diese ganze Teppich-Geschichte schon geschätzte Dutzende Male innerhalb der Familie preisgegeben wurde.
„Ja, bitte, bitte, Grandma! Erzähle nur, ich lausche!“, fordert sie ihre Großmutter auf, denn Adelaine liebt es immer aufs Neue, wenn sich Großmutters sprühende Erzähl-Fontaine über sie, die luchsende Zuhörerin, ergießt.
„Adelaine, mein Kind, würdest du dich freundlicherweise erheben und Schublade Nummer vier öffnen, dort zwischen der dritten und vierten Unterteilung, da ziehe bitte die dunkelrote Leinentasche hervor!“
Und während sie ihren rechten Zeigefinger zu strecken versucht, so gut es eben mit dem Höcker geht, wenn einem das Zipperlein plagt, sortiert die folgsame Enkelin derweil ihre übereinandergeschlagenen Beine, zunächst jedenfalls, um sich anschließend mit frischem Schwung aus dem Sessel zu erheben.
„Na ja, ich will es ja nicht gesehen haben, junges Fräulein! Es geziemt sich für eine Dame einfach nicht, Rockschöße wie ein Wirbelwind hoch wehen zu lassen!“
Enkeltöchterchen schluckt, schuldbewusst schlägt sie wortlos ihre Augen nieder. Dann ergreift sie brav den Messinggriff der vierten Schublade, öffnet sie und erspäht ganz unten auf dem Holzboden eine dunkelrot glänzende Angelegenheit. Großmutter hält ihre Hand ausgestreckt, sie giert regelrecht danach, das Gewünschte endlich in den Händen halten zu können.
„Hier, Adelaine, schau dir mal diesen Brief an!“
„Oh, Grandma, ein rotes Wachssiegel!“
„Ja, meine Kleine, wenn du das Band mit dem Siegel entfernst und das Pergamentpapier aufwickelst, dann, sieh’ mal hier, da kommt ein Stück Seidenstoff hervor, welches dereinst einmal als weißes Läppchen an der Wandteppichrückseite angebracht war. Inzwischen hat es sich als gräuliches Gebilde mehr und mehr vom Teppichvater abgenabelt. Betrachte mal, was hier drauf gestempelt steht! Es lässt sich nur mit Adleraugen entziffern!“
„Grandma, ich glaube, dass ich Adleraugen, vielleicht sogar Luchsaugen habe. Die brauche ich hier wirklich, denn die Schriftzeichen sind schon kaum noch auszumachen. Das hier könnte ein N sein, dann kommt vielleicht ein a und ein s…“
„Du, ich glaube, ich entsinne mich, es muss der Naser ad-Din, der Schah von Persien sein, der hier verewigt worden ist.“
Mein Gott, … immer dann, wenn Großmutter verzückt ist, dann ist sie nicht voll bei Sinnen, geht es Adelaine durch den Kopf, stillvergnügt registrierend, wie sich Großmutters erdbeerrote Lippen dem angegrauten Seidentüchlein in voller Zartheit nähern und ihr Mund dabei beschwörende Worte haucht: „Oh, du Herrscher aller Herrscher! Du hast mit hoheitsvollen Händen schon dieses unscheinbare Stück Stoff berührt und diesen da erst recht, denn du hast ihn vor meinem Herrn Vater eigenhändig ausgebreitet, diesen unseren Teppichschatz, der schon seit Ewigkeiten unsere Wand ziert!“
Adelaines Augen folgen wie gebannt dem Blick ihrer Großmutter zur Wand hin. Betrachte ich mir dieses Kleinod jetzt nicht zum ersten Male in gebührender Weise? Eigentlich hatte sie in ihren zwanzig Erdenjahren den Wandschmuck mit den Jägern, Tieren und Pflanzen nie bewusst wahrgenommen. Hatte die sich immer wieder als indigofarbige mit Petrolschattierung über den Wandteppich erstreckende Pflanzenranke je ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen? Nein, eher nicht, denn dieser Teppich gehörte wie selbstverständlich in Großmutters Reich, er war einfach vorhanden, hing immer an vertrautem Ort und an gewohnter Stelle und dort war er einfach nicht mehr wegzudenken, ebenso wenig wie der Kinder Masernpunkte nach einem herzhaften großmütterlichen Schmatz auf Kinderstirn oder Kinderwange oder der liebevolle großväterliche Schultertatsch bei der Begrüßung. Zum Landhausinventar zu gehören war auch einem geheimnisvollen Möbel, dem Schreibsekretär vergönnt, dessen Innenleben sich vor den Kindern keineswegs in ständiger