Großmama nickt, heftig sogar. Dabei glänzen ihre Augen wie Kinderaugen, die den leuchtenden Weihnachtsbaum bewundern. „Dein Ururgroßvater, ja, das war der Francis, der Sohn vom John, der sogar als der Gründer seiner eigenen Bank über alle Landesgrenzen hinweg Furore machte!“
Adelaine rühmt sich mit stolzgeschwellter Brust ihrer Vorfahren; beinahe gleichzeitig spürt sie jedoch einen Schauer über ihren Rücken laufen, der alles andere als Begeisterungsstürme in ihr entfacht. Ob sie ihren Vorfahren einmal das Wasser wird reichen können? Aber …, so arbeitet es in ihrem Kopf weiter, … ich bin ja eine Frau und eine Frau wird immer noch in erster Linie dafür verantwortlich zeichnen müssen, ihrem Mann eine stützende Kraft und ihren Kindern eine treusorgende Mutter zu sein. Ihr Universitätsstudium, ja, es bedeutet eine Auszeichnung für sie, ohne Zweifel! Ob es aber eine Eintrittskarte in das Bildungsbürgertum bereithält, das steht auf einem völlig anderen Blatt, wie sie im Stillen sinniert. Vielleicht wird es sie lediglich dazu befähigen, ihrem Ehemann eine geistig ebenbürtige Frau Gemahlin zu werden? Der Beginn der zwanziger Jahre verheißt zwar neue Möglichkeiten, aber sie, sie schluckt heftig, als sie ihren Gedanken weiterspinnt, Mutter von vielen Kindern, nur nicht gerade einem Dutzend, möchte ich aber unbedingt auch werden! Bisher hatte sie sich um ihre Zukunft nicht allzu viele Gedanken gemacht. Jetzt reißt sie der Blick auf den glänzenden Messinggriff, den sie andächtig streichelt, erneut abrupt aus ihrem tiefsinnigen Gedankengang.
„Hier musste sicher massenhaft Geschäftspost erledigt werden. Ob dieser riesige Tintenfleck noch von daher stammt?“
Die Großmutter lauscht jedem Wort ihrer Enkelin, spürt sie doch ihr langes In-Sich-Gekehrt-Sein, sie schweigt jedoch, während Adelaine weiterspricht und das in einem Galopp, der aufsehenerregend ist. Ob sie erregt ist? Sicher empfindet sie die Geschichte ihrer Vorfahren als sehr faszinierend!, so sinniert die alte Dame, ehe sie fortfährt: „Vielleicht hat sich mein Vater als kleiner Bub ja an das Tintenfass begeben und wollte wie die Großen auch mit dem Federkiel schreiben! Und dann ist womöglich das Tintenfleck-Malheur passiert! Oder junge Männer, vielleicht auch der Großvater, könnten über einem Liebesbrief gebrütet haben, wer weiß, aber solcherlei Gefühlsduselei scheint wohl mehr Weiberkram gewesen zu sein. So war es, ist es und so wird es wohl immer bleiben! Du kommst aber auch auf kreative Ideen! Du hast Phantasien, meine Kleine!“ Lady Ethel betrachtet ihre Enkelin mit verschmitztem Blick. Sie lässt gerade wieder einen Schwall Earl Grey in ihre Tasse laufen und fordert Adelaine auf, es ihr nachzutun. „Deinen Vater, Evel im Kleinformat, den muss ich unbedingt in Schutz nehmen! Nie und nimmer kann er der Übeltäter gewesen sein! Den Fleck hatte dein Großvater nämlich schon mit in die Ehe gebracht, verstanden? Wer weiß, wer da so stürmisch zu Werke gegangen und wem dabei das Tintenfass-Missgeschick passiert war?“
Die Großmutter liebt es, mit ihren Enkeln beisammenzusitzen und über frühere Zeiten zu plaudern, wobei Adelaine zugegebenermaßen als ihre Lieblingsenkelin gilt, denn beide verbindet eine starke Seelenverwandtschaft miteinander.
„Aber die Sache mit dem Liebesbrief! … äh, ja, eigentlich ist das nicht von der Hand zu weisen, dass dein Großvater mir einen von dieser Sorte geschrieben hat. Damals nach unserem Kennenlernen auf der Insel Malta, das heißt wenige Wochen später habe ich doch tatsächlich ein Briefchen von ihm erhalten und da wusste ich, dass es bei ihm auch eingeschlagen hatte, aber mächtig mit Donner und Doria, so wie ich es beim ersten Treffen im Park schon bemerkte!“
„Handelt es sich da etwa um dieses Briefchen hier, aus dem untersten Fach links? Ich habe es gerade gefunden!“
Wenn Omas rot werden, dann ist das das höchste Warnsignal, überlegt sich die Enkelin, plötzlich leicht bis mittelmäßig verlegen. Wie konnte sie dieses pikante Thema überhaupt vor ihrer Großmutter ausbreiten?, fragt sie sich, denn sie beobachtet, wie sich Omas Haut sichtlich von ihrem blassen rosa-weißen Teint in einen dunkleren Farbton verwandelt.
„Lass’ mich ihn erst einmal still lesen! Gib’ ihn mir bitte mal!“ Lady Ethel nimmt schnell wieder Haltung an. Schließlich darf sie sich doch auf keinen Fall gehen lassen, allein im Stübchen mag das noch angehen, aber wenn ihre Kinder und Enkel bei ihr sind, darf sie sich das nie und nimmer erlauben! Sie überfliegt das Briefchen im Nu! Das vergilbte Papier lässt einige der wenigen Buchstaben kaum noch entziffern. Aber sie, die Verblichenen, hatten sich Jahrzehnte zuvor schon längst in ihr Herz eingegraben. Mit dem Kopf nickend und erleichtert darüber, dass seine Liebesschwüre gekonnt sachlich, voller Ehrerbietung und Anstand ausgefallen waren, sinniert sie: Typisch Evel, denn Gefühlsdinge anzusprechen, das passte so ganz und gar nicht zu ihm.
„Adelaine, mein Kind, hör’ mal, wie gewählt er sich hier ausdrückt: Mein höchst verehrtes Fräulein, der gewisse Herr, der auf der Insel Malta Ihre werte Bekanntschaft machen durfte, sinnt darüber nach, diese freundschaftliche Beziehung zu intensivieren, da er nach reiflicher Überlegung zu der Auffassung gelangen konnte, dass eine Fortsetzung derselben im Interesse der männlichen wie weiblichen Seite sein dürfte! Bitte teilen Sie mir in gnädiger Weise mit, wie Ihr Standpunkt zu dieser Thematik ausfällt! Mit hochachtungsvollen Grüßen verbleibe ich als Ihr werter Herr Evel Baren!“
„Grandma, du machst mich richtiggehend neugierig! Jetzt musst du mir aber auch erzählen, wie ihr euch auf Malta kennengelernt habt! Oh, ich glaube, ich ahne es schon!“
Familiengeheimnisse werden gerne untereinander weitergereicht, flüsternd natürlich, hinter vorgehaltener Hand, mit einem verschämten oder verschmitztem Lächeln, vielleicht auch einem fragenden Blick, der nur schwer glauben kann, was der Mund des Gegenübers im Flüsterton artikuliert. Großmutter Ethel, gerade noch auf der äußeren Kante des Sessels hockend, wie zum Absprung bereit, rückt mit ihrem Gesäß zurück in ihre gemütliche Kissenkuhle. Ehe sie gedenkt, sich in aller Ausführlichkeit ihrer Enkelin mitzuteilen, zupft sie in aller Seelenruhe ihr Spitzentuch aus ihrem Ärmel, um einen Teetropfen auf ihrem Dekolleté abzutropfen, einen einzigen, der gerade das Ziel verfolgt, zwischen ihren Brüsten entlang zu träufeln.
„Ja, in Malta war dein Großvater als Adjutant für Sir Henri Storks tätig gewesen. Dieser hochstehende Generalleutnant bestand, wie dein Großvater immer schmunzelnd betonte, fast nur aus Orden und Medaillen, die, an seiner Uniform befestigt, glänzten. Ernst und erhaben befehligte er seine Armee. Ja, so war das eben und so ist es noch, auch jetzt noch sechzig Jahre später, in mir lebendig! Und genauso wird es für mich auch in alle Ewigkeiten bleiben!“
Adelaine kann nicht umhin, einen Einwurf zu machen: „Dass hinter diesen Herrschern Menschen mit Herz und Seele stecken, das merkt man sicher, wenn überhaupt nur, beim engerem Kontakt mit ihnen. Und dabei werden bestimmt auch oft genug unüberwindliche Abgründe sichtbar. Aber wer darf schon in tieferer Verbindung mit Hochwürdigen treten, ausgenommen der eigenen Familie und einigen engsten Freunden? Übrigens …“ Adelaine stützt ihren Kopf ein wenig auf die Finger ihrer rechten Hand, ehe sie fortfährt, „… stand Malta zu diesem Zeitpunkt nicht unter Kolonialherrschaft von England?“
„Ja, sie dauerte sogar, … warte mal, ich muss jetzt mal tüchtig überlegen …!“ Und jetzt ist es Lady Ethel, die ihren alten Kopf auf beide Hände stützen muss, um dort noch etwas herauszubefördern, was ihr über Jahrzehnte lang präsent geblieben, aber in diesem Moment weggehuscht zu sein scheint. „Oh, ich hab’s! Mein Dickschädel