„Ja, ja meine liebe Kleine, pass’ du mal tüchtig auf, dass du nicht eines Tages mal in einer Anstalt landest so wie die Maria! Die ist sogar …!“
„Schwager!“ Selten hat Adelaine ihre Großmutter bisher so entrüstet aufschreien gehört. „Gib endlich Ruhe! Hast du denn kein Herz im Leibe?“
„Liebe Schwägerin! Sei nicht so schlimm erbost! Ein junger Mensch muss gewarnt werden, denn du weißt es selbst, was die ganze Familie mitgemacht hat, als Maria in die Themse gegangen ist!“
„Nein, so nicht! Nein, so nicht! Du verängstigt die Kleine ja bis aufs Blut! Wo bleibt deine Einfühlungsgabe, oh du mein Gott?“
Adelaine schweigt und zeigt Verwirrung. Sie versteht weder Großmutter noch Großonkel. Er malt den Teufel an die Wand, einen ganz großen, aber Großmutter mischt mit einem Teufelchen, einem ziemlich kleinen, einem schwermütigen, ebenfalls mit, wenn sie meine Gefühlslage dramatisiert. Adelaine schweigt noch immer, aber die Frage wie: Bin ich schwermütig, wenn ich übers Leben nachsinne?, schwirrt in ihrem Kopf herum und sie nimmt sich vor, beim nächsten Mal, wenn sie mit Grandma alleine ist, ihre geheimsten Ängste zur Sprache zu bringen. Großonkels Unbesonnenheit kann sie dabei überhaupt nicht gebrauchen, nein, wirklich nicht, nie und nimmer!
„Adelaine, sieh mal hier!“ Der runzelige Finger, der mit dem Tatterich, tanzt zwischen zwei Tinten-Rechtecken hin und her. „Hier wird’s für uns eigentlich erst interessant! Ab hier spaltet sich der Familienzweig in eine englische und in eine deutsche Linie. – Großonkel, meinst du diesen Franz hier oder etwa diesen Menschen hier, mal ausnahmsweise einen Johann?“
Adelaine beobachtet, wie sein Finger zwischen beiden Namen hin- und herpendelt. „Du zeigst mal mehr hier, mal mehr dort hin. Dein Finger wackelt hin und her.“
Der alte Herr kann es schwerlich ertragen, wenn ihn ein Mensch auf irgendeine seiner Unzulänglichkeiten hinweist. Energisch greift er nach dem zierlichen Obstmesserchen, das Mrs. Smith den dreien samt einem Korb glänzender, rotbackiger Äpfel auf den Tisch gestellt hatte. Und genauso energisch stupst er mit der Messerklinge, der schmaleren goldbesetzten Seite auf den Namen: Johann. „Warte mal ab, junges Gör, wenn du mal in solch’ eine Lage kommen solltest, dass du deine Gliedmaßen nicht mehr unter vollständiger Beherrschung hast!“
Großmutter und Enkelin werfen sich vielsagende Blicke zu, ehe Adelaine ausruft: „Oh, seht mal hier …!“ Dabei zeigt sie auf die beiden Herren Franz und Johann. „Das ist aber seltsam. Betrachtet euch mal die Zahlen genauer! Bei dem einen steht 1697 als Todesdatum, bei dem anderen als Geburtsdatum.“
„Ja, du hast recht, der Vater Franz ist vier Wochen vor der Geburt seines Sohnes gestorben!“
„Mein Gott, wie traurig!“ Adelaine macht ein bekümmertes Gesicht, als der alte Herr ihr unsanft über den Mund fährt.
„So war das eben! Geburt und Tod waren eng miteinander verzahnt. Ihr seid heute eben viel zu sehr verweichlicht! Schreib’ es dir hinter die Ohren: Das Leben ist wahrlich kein Zuckerschlecken!“
Großmutters Blick zur Enkelin spricht Bände; Bände, die nur ihr sehr vertraute Menschen entziffern können. Sie sagt keinen Ton; ihre Erregung zeigt sich lediglich darin, dass sie ihren Apfel sehr fahrig behandelt. Anstatt mit liebevollen Augen in gleichmäßige Stücke geteilt zu werden, spürt der rotglänzende Jonathan kreuzweise liederliche Einschnitte in seinem Fleisch, wobei zornige Augen ihm entgegen funkeln.
Der alte Herr rutscht derweil in seinem Sessel ein Stück nach hinten und zieht genüsslich an seiner Pfeife: „Ja, manchmal kann Alter eben auch ein Vorteil sein! So verhinderte es, dass ich 1914 eingezogen worden bin. England hat den größten Fehler aller Zeiten gemacht, dass es mit ins grauenvolle Kriegsgetümmel eingestiegen ist.“
Adelaine weiß nur zu gut, dass das Stichwort ‚Krieg‘ einen nicht endenden Redeschwall beim Großonkel auszulösen imstande ist! Und sie reagiert sehr geistesgegenwärtig. „Onkel Jacob! Sieh hier! Dein Namensvetter hat seine Namensänderung vollzogen. Aus Johann wird John. Ein Deutscher wird zum Briten. Und Johns gibt es eine Menge bei unseren Altvorderen! Der erste Sohn eines Johns wird mit eben diesem Namen ausstaffiert!“
Oh, Thema Krieg – erfolgreich besiegt, Thema Sohn; offenbar eine erneute Bedrohung? Oh, wie konnte ich auch? Dass ihr ihre Unbekümmertheit nicht immer zum Segen gereicht, spürt sie beim Anblick des Gegenübers. Großonkels ‚Zipfel vom Paradies‘, so pflegt er sein Pfeifenstündchen meist schelmisch zu nennen, droht augenscheinlich mit Flugkraft ein finsteres Terrain anzusteuern, denn der würzige Pfeifenrauch verändert zusehends seine Beschaffenheit, so dass eine säuerliche Duftnote mehr und mehr den Raum erfüllt.
„Darf ich dir einen Ratschlag geben, Jacob? Übe dich weiterhin in Geduld mit deinem schwierigen Sohn, mein Schwager! Manches Kind entwickelt sich erst später. Pflege deine Zuversicht, dass auch das deinige, das widerspenstige Kind, eines Tages würdig in deine und in deiner Vorfahren Fußstapfen treten wird!“
Oh, manchmal ist Grandma doch ein wahrer Engel und nicht das winzigstes Teufelchen scheint in ihr verborgen, so wie ich es eben noch geglaubt habe. Wie oft hat Großmutter nicht schon eine brenzlige Situation retten können? Sie hebt ihren wenigstens einer Sorge enthobenen Kopf wieder hoch, als Großonkel sich erneut zum Stammbaum hinunterbeugt, um die Reihe von fünf Kästchen abzugrasen, von links nach rechts verfolgt er, diesmal mit seiner ledernen Griffelhülle, die Kinderschar seines Namensvetters, der mit Elizabeth, der Frau verheiratet war, die, das ging von Generation zu Generation weiter, eine Mitgift von sage und schreibe 20.000 Pfund mit in die Ehe gebracht haben soll.
„Ja, mein Kind, hättest du in dieser Zeit gelebt, du wärest auf Gedeih und Verderb von der Gunst deiner Eltern abhängig gewesen. Zwischen Eltern und zukünftigen Schwiegereltern wurde ein regelrechtes ökonomisches Tauziehen veranstaltet und die Ehe glich einem Artikel, der bestmöglich versteigert werden musste. Wohlunterrichtete Teezirkel der Damen höheren Geblüts fanden ihren Gefallen daran, mit ihrer Einbildungskraft der Reihe nach alle zur Verfügung stehenden Heiratskandidaten zu verkuppeln. Das artete in ein beliebtes Gesellschaftsspiel aus. Ja, mein Kind, das waren noch Zeiten …!“
Kaum, dass der alte Herr zum Luftholen kommt, unterbricht Adelaine seinen Wortschwall. Scharfsinnig zu sein, das ist ihr eine keineswegs in die Wiege gelegte Gabe, die sie nach Verlangen abrufen kann. Aber nun? Tauben, die auf Marktplätzen lästig fallen, versucht jeder zu vertreiben, doch Tauben, die einen Funken Heiligen Geist versprühen, sind ersehnte, himmlische Begleiter, die wie in unserem Falle, dem jungen Mädchen das richtige Wort zur rechten Zeit eingeben. Adelaine weiß nämlich um die gefährlichen Redeschlachten mit dem Großonkel, besonders auch, was das Thema ‚Heirat‘ betrifft. Das Unangenehme an der ganzen Angelegenheit ist, dass er dabei so gut wie immer als Sieger hervorgeht.
„Lieber Onkel Jacob“, etwas Possierliches zu sagen, das kann nie verkehrt sein, befindet sie dankbar, „… bereite mir bitte eine große Freude und erläutere mir diesen wunderbaren Stammbaum! Vier Söhne und nur eine Tochter!“, konstatiert Adelaine etwas verwundert, auf die fünf dicht nebeneinander stehenden Rechtecke tippend, sie zeigt sich insgeheim aber erleichtert darüber, dass sie selbst nicht mit vier Brüdern gesegnet worden war, wo ihr doch einer von der anstrengenden Sorte schon mehr als genügte. „Der eine von ihnen, war der nicht jener, welcher …?“
Lady Ethel murmelt etwas vor sich, so als habe sie Angst, das Unglaubliche laut auszusprechen, denn Ungehöriges zu erwähnen, ja, auch nur anzudeuten, das verbietet sich eigentlich in ihrem anständigen Haus … Ja, das Unvorstellbare wurde doch immer hinter vorgehaltener Hand meistens von Ohr zu Ohr über die Damen weitergereicht, und niemand wagte so recht, dieses gewisse ‚Es‘ über seine Lippen kommen zu lassen, das Unaussprechliche, aber in der Weise wie der weibliche Klatschmund sich dabei zu einem versteckten Grinsen verformte und wie dieses geheimnisumwitterte ‚Es‘ die Damen zu erregen schien, das spricht Grandma in diesem Moment doch tatsächlich aus.
„Ja,