„Mein Mädchen, ja, da siehst du, dass Vernunft und Einsicht die Männer unserer Familie ausgezeichnet haben. Ich bin erfreut darüber, dass du, als junges Wesen, deinen bedeutenden Vorfahren ebenso viel Wertschätzung entgegen bringst wie unsereins.“ Der Großonkel scheint voller Lob für das große Interesse, das seine Großnichte für seine Familiengeschichte aufbringt. „Nicht wahr, meine verehrte Schwägerin, du zollst deiner Enkelin doch ebensolchen Respekt wie ich es tue? Wenn eine sehr alte Frau noch so schnell reagieren kann, dann kann es nur Großmama sein, bedenkt Adelaine, denn der Greisenkopf mit den Silberfädchen, wie Grandma ihn selbst tituliert, wendet sich flink wie ein Wiesel zur Seite, um ihr, der Enkelin, einen Blick zu schenken, einen ganz besonderen, einen ganz und gar liebevollen, einen solchen Blick, der nur zwischen zwei Seelenverwandten möglich ist. Worte bedarf es dabei keiner mehr! „Großonkel, eine Frage habe ich da noch an dich: Der Francis schreibt über Franz, der unter der Herrschaft von Franz dem I. lebte – so viele Franzens auf einmal, wirklich unglaublich! – dass unser Franz, der aus Deutschland, die zwölf Punkte, die Ko… ich weiß nicht mehr, wie sie richtig heißen, diese Ko…formeln nicht unterschrieben hat. Weißt du da Näheres, Onkel Jacob?“
Der Angesprochene bleibt für Sekunden still, was selten genug geschieht und seine Nachdenklichkeit zeigt. Dabei zieht er seine Nasenflügel so lustig zusammen, bemerkt Adelaine, in der Art wie er seine Stirn dabei runzelt und die Augen so starr nach oben geblickt hält, es sieht ganz danach aus, als inspiziere er inwendig seine Gehirnregionen aufs Gründlichste.
„Hm! Adelaine! Mein armer, alter Kopf! Aber ein Gedanke, der ist mir aus der Tiefe entgegen gekrochen gekommen, denn damit habe ich mich früher einmal beschäftigt.“ Seinen Kopf ein wenig gesenkt, fährt er mit dem Reden fort, während die Fingerspitzen der rechten Hand seinen Gedankenträger und Ideensortierer, sprich ‚Kopf‘, abzustützen suchen. „Kon – hm! – Konkor – hm! Konkordienformel heißt das berühmte Exemplar mit den zehn Punkten, wenn ich mich nicht täusche! Einen davon habe ich mir besonders gemerkt, weil er meine Aufmerksamkeit und mein Interesse auf sich gezogen hat. Dabei ging es um die Höllenfahrt Christi, da heißt es also, dass Christus nach seinem Tode zur Hölle gefahren ist und dort gegen den Teufel kämpfte, um ihn schließlich besiegen zu können, damit er selbst in den Himmel gelangen konnte. Alles in allem stritten Vertreter der protestantischen Kirchenrichtungen um den rechtmäßigen Glauben.“
„Oh, das Ganze klingt ja wirklich höchst befremdlich für jetzige Ohren! Christi Himmelfahrt – ja, aber Christi Höllenfahrt zuvor, obwohl er doch der Sohn Gottes ist. Ja, aber andererseits ist er auf Erden ja auch vom Teufel versucht worden. Ach, mir ist das alles viel zu kompliziert. Ich bin froh, dass ich nicht in dieser Zeit gelebt habe. Aber als weibliches Wesen damals überhaupt ein Theologiestudium zu erwägen, das wäre ja sowieso schon völlig abwegig gewesen.“ Adelaines Blick bleibt unverwandt auf den Großonkel gerichtet, als dieser nach einer längeren Schweigeminute seinen Mund wieder öffnet, um sein ‚war ja auch gut so!‘ zum Besten zu geben. Geistesgegenwärtig und weit vorhersehend wie Großmama es noch immer ist, wendet sie sich ihrem Schwager zu und fragt abrupt nach seinem weiteren Wunsch für den heutigen Nachmittag.
„Adelaine ist so wissensdurstig. Sie möchte ganz bestimmt nochmals in die Familiengeschichte eintauchen, so wie ich sie kenne. Nicht wahr, meine junge Dame? Wir werfen nochmals einen Blick auf den großen Stammbaum. Er liegt ja noch drüben auf dem Tisch ausgebreitet. Und schließlich werde ich gegen siebzehn Uhr von meinem Chauffeur heimgebracht.“
„Wollten wir uns nicht auch noch den Brief von Franzens Freund zu Gemüte führen? Ich bin wahrlich neugierig auf den ‚Ochsenbrief‘ geworden.“ Adelaine fasst sich einen Moment auf den Mund, als ob sie ihre Lippen schließen möchte. Sie war dem Großonkel ins Wort gefallen. Oh nein, ob er es gemerkt hat und aufbegehrt oder ob er so sehr mit seinen eigenen artikulierten Wünschen beschäftigt ist, dass ihm ihr Vorpreschen entgangen war.
„Wie schön, dass ich solch eine neugierige Nichte mein eigen nennen darf! Ja, komm bitte, reiche mir deine Hand und führe mich hinüber zum Tisch!“ Der alte Herr erhebt sein fülliges Hinterteil, die eine Hand auf die Armlehne gestützt, die andere sich der ausgestreckten Hand der Nichte entgegen streckend. Wie eine Ewigkeit erscheint es dem jungen Mädchen bis ihre beiden alten Herrschaften um den runden Tisch Platz genommen haben.
„Wo hast du diesen Familienschatz das letzte Mal gesehen, Grandma? Versuche bitte, dich zu entsinnen! Mir kommt gerade der Gedanke, dass du gestern irgendetwas von der vorletzten Schublade, der breiteren, gesagt hattest. Ich werde dort mal nachsehen, wenn es dir genehm ist!“
Dame Ethel nickt, Kätzchen Käthe hat es sich wieder auf ihrem Schoß gemütlich eingerichtet und scheint sich, vom schwarzen luftigen Chiffon umhüllt, geborgen zu fühlen, zumal die morgendlichen Streicheleinheiten zu beiderseitigem Vergnügen fester Bestandteil des landhäuslichen Rituals geworden sind. Diesmal dauert es ein wenig länger; das Stöbern im geheimnisumwitterten Sekretär. „Das nicht, das nicht, oh, das dürfte auch interessant sein, Briefe aus Ägypten, aber, warte mal, nicht zu ungestüm, ich werde nicht das letzte Mal hier auf Entdeckungsreise gehen! Alles der Reihe nach!“, spricht sie sich selbst zu, klugerweise, so überlegt sie, während ihre Finger durch Papierstapel wandern und ihre Augen auf Absender und Aufschriften von Umschlägen gerichtet sind, aber ich lasse meine Gedanken besser nicht nach außen dringen, denn, wer weiß, ob nicht Großonkel daraufhin wieder seine speziellen Kommentare abgäbe, ganz und gar nicht zu meinem Gefallen. Sie spürt im Hintergrund zwei Luchsaugen auf sich gerichtet und erinnert sich an die Onkel-Bemerkung: „Na, meine kleine Schnüfflerin! Wieder eine Fährte gefunden?“
„Findest du den Umschlag nicht, mein Kind? Sieh mal bitte in dem senkrechten Fach, dem zweiten von rechts nach! Vielleicht hast du da mehr Glück!“
Großmutters Worte im Ohr gleiten Adelaines Finger in die oberen Gefilde der Schatztruhe, treffender gesagt, in dieses, ungeahnte Schätze offenbarendes Schreib-Mobiliar, das jedem auf Stöberjagd gehenden Eiferer faszinieren muss. Adelaines Kopf beginnt auf Hochtouren zu arbeiten. Gab es da nicht dereinst auch das Verwirrspiel um König Georges, III, der in der Zeit der ‚regency period‘ gelebt hat? In dieser Epoche, in der das gute Stück aus Mahagoniholz entstanden war? Ob hier vielleicht noch Briefe zu finden sind, in denen meine Vorfahren, vornehmlich weiblichen Geschlechts, ihre Herzensergüsse über diese Tragödie um diesen englischen Herrscher zum Besten gegeben haben? Adelaines Hirn arbeitet sichtlich auf Hochtouren! Es läuft nämlich puterrot an. Oh da, ja, auf einem Kuvert, der schon wie von Mäusen zerfressen scheint, mit verblichenen gestochenen gemalten Buchstaben, oh, hier, Moment mal, hier steht es vorn doch drauf: von Mary an Elisabeth, Datum vom 6.7.1821. Wer auch immer diese beiden Damen sind, ich werde diesen Brief später einmal mit Großmutter lesen; denn Großonkel würde bei dieser Angelegenheit nur stören, befindet sie insgeheim, denn er liebt solchen Weiberkram überhaupt nicht.
„Adelaine, hast du den Brief von Paul denn gefunden?“ Großmutter wundert sich über der Enkelin Geschäftigkeit und schüttelt ihren grauen Knoten-Kopf, während der Großonkel bedächtig, wie er es über alle Maßen liebt, sich Tabak, den er zuvor aus der bunten Blechdose genommen hat, in sein Pfeifchen stopft. Jetzt bringt Großonkel nichts mehr so schnell aus der Ruhe, das weiß das junge Mädchen, denn genauso wie Großmutter ihre Glaubensrituale schätzt, so scheint Großonkel für das nächste halbe Stündchen in einen heiligen Raum der Ruhe einzutreten.
„Juchhu, da bist du ja endlich, du Ersehnter! Du wolltest mich wohl ein wenig foppen und hattest dich in die äußerste Ecke verkrochen!“ Adelaine greift nach dem Kuvert und trägt es, mit sich und der Welt zufrieden, zum Tisch hin. „Grandma, diese Schrift, sieh’ mal! Ich hab’ mehr geraten als dass ich es entziffern konnte. Das hier ist doch ein P, und dahinter, so denke ich mir mal, sind das a, u und das l. Grandma, würdest du uns bitte den Brief vorlesen? Du kennst die Schrift sicher besser!“ Adelaine hatte ihn vorsichtig entfaltet und hält ihn der Großmutter unter die Nase!
„Kind, reiche mir bitte mein Brillenglas!“ Genau dann, wenn Großmutter ihr Monokel mit ihrem Augenlidmuskel festklemmt, dann verzieht sie jedes Mal ihren Mundwinkel ein wenig nach oben, so als ob sie einseitig lächele. Wie ein gelehriger Herr Professor wirkt sie in