Es wäre gut, wenn Raimund sich mehr bewegen würde. Dann hätte er kein Übergewicht und der Stuhlgang wäre auch weicher.
Raimund bewegt sich aber nicht gern. Das Sofa ist sein Lieblingsplatz.
Aber irgendwas muss er doch machen, wenn Benjamin den ganzen Tag nicht da ist.
Das Vieh kann doch nicht 24 Stunden lang pennen.
Oder doch?
Seit Benjamin seine neue Wohnung bezogen hat, gibt es eigentlich genug andere Projekte. Weil das Geld für eine Grundrenovierung fehlt, wohnt er seit zwei Monaten auf einer halben Baustelle. Das Wohnzimmer ist fertig. Die Küche auch. Aber Flur, Schlafzimmer und die kleine Kammer müssen noch gemacht werden.
Für Benjamin kein Problem. Er hat keine Freundin zur Zeit und die Umzugskisten und Malerfolien stören ihn nicht.
Jedes Wochenende kommt er mit der Renovierung seines neuen Heims ein kleines Stück weiter.
Trotzdem ist dieser brennende Wunsch entfacht, zu wissen, was Raimund tagsüber so treibt.
Der Tierarzt meinte mal, dass Katzen über ein Eigenleben verfügen. Dass sie – wie Menschen auch – Macken entwickeln. Zumindest in Wohnungen. Da werden alle Viecher neurotisch, die eigentlich ein paar Quadratkilometer als Revier brauchen.
Benjamin nimmt diese Aussage als Versprechen. Sein Kater Raimund hat also Macken. Und die sind bestimmt lustig. Vielleicht kann man einen YouTube-Channel machen? Der würde dann „Raimund allein zu Haus“ heißen.
Dieser Gedanke ist Benjamin die knapp 200 Euro für die Wlan-fähige Kamera wert. Es ist eine spezielle Haustier-Cam. Mit Bewegungssensor und HD-Auflösung. Alle Aktivitäten werden sofort auf einen Server geladen und Benjamin kann sich das dann auf seinem Handy ansehen. Oder später – nach Feierabend – auf dem Computer.
Vorfreude! Und wie!
Leider sind schon die ersten Aufnahmen ernüchternd. Das Weitwinkel erfasst den Moment, wo Benjamin die Wohnung verlässt (Bewegung) und den Moment, wo er wieder heimkommt (noch eine Bewegung).
Ansonsten nix.
Die Geburt des langweiligsten YouTube-Channels ever.
Benjamin findet, dass die 200 Euro sich irgendwie auszahlen müssen und schaltet den Sensor ab. Jetzt nimmt die Kamera alle 10 Sekunden ein Bild auf. Egal, ob sich etwas bewegt oder nicht. Damit wird Raimund sich keinesfalls mehr unbeobachtet durchs Zimmer schleichen können.
Ha!
Und es funktioniert. Jeden Tag gibt es einen Zeitrafferfilm von Benjamins Wohnzimmer.
Und auf etwa fünf Bildern ist Raimund zu sehen. Wie er vom Sofa klettert. Verschwindet. Und gegen Abend zurück aufs Sofa klettert.
Yeah. Big Deal. Die 200 Euro haben sich total gelohnt.
Benjamin vermutet, dass Raimund den Tag irgendwo im unrenovierten Teil der Wohnung verbringt und nimmt es als Motivation, endlich weiterzumachen.
Diese Wände streichen sich nicht von allein.
Nachdem die Tapete im Flur – sie setzt sich bis in die kleine Kammer am Ende fort – jetzt zum dritten Mal runtergefallen ist, muss Benjamin einsehen, dass das nix wird mit dem Überstreichen. Da befinden sich so viele Schichten Tapete auf der Wand, dass schon die leichte Feuchtigkeit seiner Wandfarbe reicht, um den uralten Kleister der oberen Schicht zu lösen. Platsch.
Also Spachtel und Dampfgerät und los.
Benjamin schuftet das komplette Wochenende. Natürlich geht die Tapete ohne Farbe drauf nur in winzigen Streifen ab. Und als es endlich Sonntagabend ist, hat er gerade mal den Flur und einen Teil der Kammer geschafft. An der Rückwand der Abstellkammer geht es ganz besonders schwer. Und Benjamin gibt auf. Für dieses Mal. Er erklärt sich die erstaunliche Haftkraft durch den anderen Untergrund.
Wenn man dran klopft, klingt es nicht wie Ziegelstein, sondern wie Holz.
Gibt es oft, in Altbauten. Das stammt aus einer Zeit, wo man noch Dienstboten hatte und die Wohnungen sich über komplette Etagen erstreckten. Damals müssen die Mieten dramatisch anders gewesen sein.
Benjamin vermutet eine alte, verrammelte Tür am Ende der Kammer. Denn früher war da vermutlich keine Kammer, sondern der Flur ging einfach weiter. Zum Südflügel. Wo die Chaiselongue der Erbtante stand. Oder so.
Jetzt ist das die Nachbarwohnung.
Schön. Die Tapete muss trotzdem runter.
Aber nächstes Wochenende erst.
Die nächsten Tage vergehen mit ereignislosen Zeitrafferfilmen einer kamerascheuen Katze.
Kollegen, denen Benjamin davon erzählt hat, meinen, man sollte seine Haustiere nicht stalken. Die hätten auch ein Recht auf Privatsphäre.
Benjamin findet das lächerlich. Er will Raimund bei seinen tollen, bemackten Aktivitäten sehen. Endlich! Aber dazu bräuchte er eine zweite Kamera. Für den anderen Teil der Wohnung. Oder sogar eine dritte. Fürs Schlafzimmer.
Denn wenn er die Kamera aus dem Wohnzimmer jetzt einfach umdreht, dann wird Raimund das merken und sein Verhalten ändern. Weil Katzen so sind. Aber Benjamin fehlt ohnehin das Geld für eine flächendeckende Überwachung und so macht er lieber mit der Renovierung weiter.
Damit es schneller geht, pfuscht er. Denn die Rückwand der Kammer wird sowieso nie einer zu sehen kriegen. Also bleibt die Tapete dran und wird einfach fleckig überstrichen. Und – das bestätigt die These mit dem anderen Untergrund – hier hält auch die Tapete.
Anschließend kommt das Schlafzimmer und Benjamin fühlt sich wie einer der Helden aus der Hornbachwerbung.
Bis zu dem Tag, als er Frau Soll aus dem ersten Stock trifft. Die Rentnerin meckert ihm die Ohren voll wegen der gestiegenen Heizkosten. Sie soll jetzt 85 Euro Abschlag jeden Monat zahlen. Von ihrer lächerlichen Witwenrente. Wo sie doch nur 56 Quadratmeter hat.
56?!
Benjamin hat die Wohnung mit 54 Quadratmetern vermietet bekommen. Wo sind seine restlichen 2?
Mit einem Maßband ist die Arbeit schnell erledigt. Wohnzimmer plus Küche plus Schlafzimmer plus Flur. Ergebnis 54.
Vielleicht ist sein Grundriss anders als der von Frau Soll? Es gibt ja in Altbauten auch je nach Stockwerk unterschiedlich dicke Wände und so.
„Ja, unten dick und oben dünn.“, meint ein Kollege. Also müsste Frau Soll eher weniger Quadratmeter haben als Benjamin. Total unlogisch.
Aber eigentlich auch egal. Benjamin zahlt ja nur die Fläche, die er auch tatsächlich hat. Also lässt er es dabei bewenden.
Bis er eines Abends – eher aus genervter Langeweile und um eine gepfefferte Amazon-Rezension zu schreiben – die Filme der letzten Wochen ansieht.
Der Plot ist jedes Mal recht ähnlich: Katze schläft. Katze steht auf und geht weg, Katze kommt sechs Stunden später wieder.
Wie die STAR WARS-Filme. Nur eben mit Katze anstatt Todesstern. Irgendwie vorhersehbar.
Nur einer ist anders. Der mit dem Schatten. In einem Film gibt es – laut Zeitstempel gegen 13 Uhr – einen Schatten an der Wand. Das muss Raimund sein!
Aber was tut er da? Wo genau ist er da?
Man sieht im Bild nur den Schatten. Keine Katze. Keine Lichtquelle. Und es sind auch nur drei Einzelbilder. Scheiß Zeitraffer!
Benjamin verschiebt die Ein-Stern-Bewertung der Haustier-Cam und platzt fast vor Neugier. Er wird die Kamera umdrehen. Denn anscheinend geht die tägliche Action im Flur ab.
Benjamin versucht, die Situation zu rekonstruieren. Er schaltet das Licht im Flur an. Schon mal gut. Das muss es sein. Anders kriegt man keinen solchen