Der älteste christliche Text. Gerd Ludemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerd Ludemann
Издательство: Автор
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Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783866741362
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Lukas verarbeitet in der Apostelgeschichte Traditionen auf seltsame Art. Er zieht nämlich oft Einzelnachrichten, die sich auf verschiedene Aufenthalte an demselben Ort beziehen, zu einer Erzählung zusammen. Dies gilt für Korinth39, wo der Apostel später drei Monate lebt40, gleichfalls für Thessalonich41, für das ebenfalls ein weiterer paulinischer Aufenthalt bezeugt wird42, aber auch für Philippi43, wohin Paulus noch zweimal gereist sein soll.44 Selbst Ephesus macht keine Ausnahme: In Apostelgeschichte 19 finden sich aus verschiedenen Zeiten – zu einer Erzählung komprimiert – mehrere Traditionen über die Wirksamkeit des Paulus in der Stadt.45 Aus all dem folgt, dass die richtige chronologische Einordnung der Einzelinformationen von den Paulusbriefen her noch aussteht.

       DIE NEUE CHRONOLOGIE

       Bestimmung des Abfassungsdatums des ersten Thessalonicherbriefs auf der alleinigen Grundlage der echten Briefe

      Die vorgebrachten Einwände haben gezeigt, dass eine Chronologie des Paulus auf der Basis einer Harmonisierung seiner Briefe mit der Apostelgeschichte zu viele Fragen offen lässt, um zu überzeugen. Gefordert ist daher eine kritische Chronologie. Sie lässt sich nur auf der alleinigen Grundlage der Briefe des Apostels erstellen.

      Diese Einsicht verdanke ich Ferdinand Christian Baur (1792– 1860) und dem US-Amerikaner John Knox (1900–1990). Beide betonen nämlich die verschiedene Qualität der historischen Angaben der echten Paulusbriefe und der Apostelgeschichte und ziehen daraus die allein möglichen Konsequenzen.

      Baur bemerkt:

      Zwischen der Apostelgeschichte und den paulinischen Briefen, soweit sie sich ihrem geschichtlichen Inhalte nach mit der Apostelgeschichte vergleichen lassen, findet im Allgemeinen ein ähnliches Verhältnis statt, wie zwischen dem johanneischen Evangelium und den synoptischen. Die Vergleichung dieser beiden Quellen muss zu der Überzeugung führen, dass bei der grossen Differenz der beiderseitigen Darstellungen die geschichtliche Wahrheit nur entweder auf der einen oder der andern Seite sein kann46.

      John Knox meint, ein winziger Hinweis in den Paulusbriefen sei von größerem historischem Wert als eine klare Angabe in der Apostelgeschichte. Außerdem müsse jeder Widerspruch zwischen Briefen und Apostelgeschichte zu Lasten letzterer gehen. Nur dort, wo die Briefe die Angaben der Apostelgeschichte bestätigten, verdiene Lukas Zutrauen.47

      Die Bedeutung der chronologischen Arbeiten von Knox besteht in Folgendem: Indem er die Paulusbriefe als Primärquellen benutzt, versetzt er den Aufbruch des Paulus nach Griechenland nicht nur in die Zeit vor der Jerusalemer Konferenz, sondern datiert diese Mission auch um ein Jahrzehnt früher als üblich.

       Ein chronologischer Haftpunkt in den Paulusbriefen

      Wenn man die Hinrichtung Jesu gemäß dem allgemeinen Konsens in das Jahr 30 n.Chr. legt und drei Jahre Abstand zwischen seinem Tod und der Bekehrung des Paulus veranschlagt, ergeben sich auf der alleinigen Grundlage der Paulusbriefe folgende Daten:

      Bei seiner Bekehrung um 33 n. Chr. war Paulus ca. dreißig Jahre alt, denn in dem gegen Mitte der fünfziger Jahre geschriebenen Brief an Philemon nennt er sich einen alten Mann48; nach damaligem Sprachgebrauch bezeichnet das ein Lebensalter von 50–56 Jahren.49

      

      Die christliche Zeit im Leben des Paulus lässt sich in zwei Phasen einteilen: 1) von der Bekehrung – ca. 32 n. Chr. – bis zur Jerusalemer Konferenz – ungefähr im Jahr 49 n. Chr. – und 2) von der Konferenz bis zur Gefangenschaft in Jerusalem – etwa im Jahr 52 n. Chr. Wie oben bemerkt, gehören nach vielen Exegeten sämtliche Briefe des Paulus zur zweiten Phase der christlichen Zeit des Paulus.

      Doch mehren sich die Stimmen, dass der erste Thessalonicherbrief aus der ersten Phase stammt.50 Bei der Beweisführung zugunsten dieser Sicht spielt als chronologisches Kriterium die Kollekte, die auf der Jerusalemer Konferenz beschlossen wurde, eine wichtige Rolle.

      Paulus kümmerte sich – so sein Eigenzeugnis – nach Abschluss der Konferenz mit Eifer um die Kollekte.51 Nach dem Stand ihrer Aufbringung in seinen Gemeinden lassen sich – unter Heranziehung anderer zeitlicher und örtlicher Angaben des Apostels – die Reisewege des Paulus erschließen und seine Briefe datieren. Die Nicht-Erwähnung der Kollekte im 1Thess, im Phil und im Philem erklärt sich dadurch, dass sie zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Briefe kein Thema war: zur Zeit des 1Thess noch nicht – daher die Abfassung dieses Briefes vor der Konferenz –, zur Zeit des Phil und Philem nicht mehr, weil Paulus sie nach Abschluss der Kollekte in Rom verfasst hat.52 Den Anfang der Kollekte markiert ihre Anordnung in Galatien53, den Abschluss ihre erfolgreiche Einsammlung in Korinth. Paulus schreibt von dort der römischen Gemeinde, dass er die Kollekte demnächst nach Jerusalem bringen will.54

      Des Weiteren verweisen die Verfechter der Frühdatierung der Europamission und des 1Thess darauf, dass die herkömmliche Rekonstruktion der Chronologie des Paulus an mehreren Punkten unstimmig ist:

      1. Falls die Missionierung Griechenlands erst nach der Konferenz stattfand, hätte Paulus sich verpflichtet, eine Kollekte von Gemeinden einzusammeln, die damals noch gar nicht bestanden. Dies erscheint nicht plausibel, denn die Kollekte sollte kurzfristig die wirtschaftliche Not der Armen in Jerusalem lindern. Zudem war die Gründung von Gemeinden langwierig, und die Neubekehrten mussten sich erst einmal davon überzeugen lassen, eine Spende für eine ihnen sonst unbekannte Personengruppe fernab in Palästina aufzubringen.

      2. Mit dem apostolischen Selbstbewusstsein des Paulus als des Apostels der Heiden – er schreibt an die römische Gemeinde: »Euch aber sage ich, den Heiden: Insofern ich nun Apostel der Heiden bin, preise ich meinen Dienst«55 – wäre es nur schwer vereinbar, dass er die eigene Mission in Griechenland erst gegen Ende seines Lebens begonnen und sich so lange vorher als Missionar der Gemeinde von Antiochien im syrischen Raum aufgehalten hätte.

      3. Die Naherwartung im ältesten erhaltenen Paulusbrief, 1Thess, ist eher verständlich, wenn dieser innerhalb des ersten Jahrzehnts der christlichen Bewegung geschrieben wurde und nicht erst gegen 50 n. Chr. Die bewusste Veränderung der Aussagen in 1Thess 4,13– 17, wo das Überleben der ersten christlichen Generation bis zur Parusie56 die Regel ist, durch 1Kor 15,51–52 – hier ist das Sterben der ersten Generation die Regel – macht zwischen beiden Briefen einen recht großen zeitlichen Abstand wahrscheinlich, der über zwei Jahre hinausgeht.57

      4. Paulus urteilt unterschiedlich über das Schicksal der Juden. 1Thess 2,16 zufolge ist über sie vollständig Gottes Gerichtszorn gekommen, während gemäß Röm 11,26 ganz Israel gerettet wird. Hier liegt ein Widerspruch vor. Offenbar hat Paulus seine Sicht geändert. Lägen nur zwei Jahre zwischen beiden Aussagen – wie die übliche Chronologie annehmen muss, – ließe sich dies kaum begreifen. Besteht dagegen ein zeitlicher Abstand von ca. 12 Jahren, wäre eine Wandlung eher verständlich. Dann könnte man sie als innere Reifung des Paulus verstehen.

      5. Die Apostelgeschichte, kritisch gelesen, bestätigt die Frühdatierung der Griechenlandmission des Paulus, denn sie enthält einen Hinweis auf das Judenedikt des Kaisers Claudius im Jahr 41 n. Chr.58

       Ein Hinweis auf den Anfang der paulinischen Mission in Griechenland

       Philipperbrief 4,15–16

      15 Ihr wisst aber auch eurerseits, Philipper, dass am Anfang des Evangeliums, als ich aus Makedonien wegging, keine Gemeinde mit mir in eine Gemeinschaft von Geben und Nehmen eintrat als ihr allein.

      16 Denn auch in Thessalonich habt ihr mir mehrmals etwas zu meinem Bedarf geschickt.

      Paulus bezeichnet die von Makedonien ausgehende Missionierung Griechenlands als den eigentlichen Anfang seiner eigenständigen Mission. Der Apostel bezieht sich schwerlich auf die Zeit nach der Jerusalemer Konferenz, sondern dürfte seine Arbeit davor im Blick haben. Phil 4,15–16 enthält aber auch eine Information zu den Ortsbewegungen des Paulus in dieser Zeit, denn von Philippi aus ist Paulus in der Tat über Thessalonich nach Athen und Korinth gezogen.59

      Die Kombination all dieser Einzelheiten zeigt: Paulus hat vor der Jerusalemer Konferenz in Griechenland – in den römischen Provinzen Makedonien und Achaia