Den Weg in die Diktatur verfolgte Hannah von Bredow ihrerseits weiterhin genau und fragte sich am 1. Mai 1932, dem fünften Sonntag nach Ostern: „Rogate. Ob die Nazis nächstes Jahr ‚Jubilate‘ schreien? Ich bin davon überzeugt.“ Für die nächsten Maitage gibt ihr Tagebuch Auskunft über eine „große Schlägerei im Reichstag“, ebenso wie über die Eröffnung des Preußischen Landtags „mit einer Riesenprügelei“. Als Drahtzieher erkannte sie jeweils NSDAP-Abgeordnete. Am Montag, dem 30. Mai 1932, schreibt sie schließlich: „Brüning ist entlassen, auf die abrupteste Weise. Gott Lob. Hoffentlich nehmen sie jetzt die Nazis ins Kabinett. Noch sind sie billig zu haben!“
Franz von Papen, Heinrich Brünings Nachfolger im Kanzleramt, bemühte sich ab dem 1. Juni 1932 vergeblich, die Nationalsozialisten in seine Regierung zu bringen. Hitler wollte die ganze Macht. Den Kanzler von Papen erlebte Hannah dann rund drei Monate nach seinem Amtsantritt als Essensgast in ihrem Hause. Sie hatte auch ihre Brüder Otto und Gottfried sowie die Familie Planck geladen.
Freimütig berichtete Papen der Gastgeberin über ein Frühstück mit dem preußischen Kronprinzen einen Tag zuvor, am 2. September 1932. Friedrich Wilhelm habe Papen Lob für seine Arbeit bekundet und dass er „spätestens mit dem Frühling“ rechne. Auf Hannahs Nachfrage zu diesem Halbsatz zitierte Papen den Kronprinzen: „Nun, Deutschland muss demnächst einen Kaiser haben, denn sonst kommt unweigerlich der Bolschewismus“, habe dieser erklärt, „und Sie denken doch bestimmt an die Legalität, denn, was könnte legaler sein als die Wiedereinsetzung einer Dynastie wie der Unsrigen?“ Papen schloss sich dieser Meinung vollkommen an, worauf Hannah ihm, „sehr amüsiert über diese typische Verkennung der Lage“, erwiderte: „Sie hätten ihm klipp und klar sagen müssen: niemals, denn man kann in Deutschland erst Ordnung schaffen, wenn man diese Familie völlig ausgeschaltet hat.“
Hannah von Bredows Misstrauen und sogar ihre Verachtung dem Hause Hohenzollern gegenüber ist verschiedenen Tagebucheintragungen und Briefen zu entnehmen. Die seinerzeit weltweit mit Erstaunen aufgenommene Entlassung ihres Großvaters im März 1890 durch Wilhelm II. verurteilte sie verständlicherweise. Mehr aber bestimmte ihre Einstellung zu den Hohenzollern die von ihr als unwürdig empfundene Abdankung des Kaisers Anfang November 1918. Seitdem hatte die Familie Hohenzollern „aufgehört, irgendeine Bedeutung zu haben.“
Schon gar nicht wollte Hannah von Bredow die Hohenzollern in der Nachfolge des Reichspräsidenten von Hindenburg sehen. Hierum kreisten die politischen Gespräche im Herbst 1932 zunehmend, zumal Hindenburg bei seiner Wiederwahl im April im 85. Lebensjahr stand und in absehbarer Zeit mit seinem Ableben zu rechnen war. Ihrem Gesprächspartner von Papen hielt Hannah vor: „Wenn Sie die Restauration anstreben, und Sie damit als Verlegenheitslösung Erfolg haben, wird der Abgrund in rasender Fahrt erreicht werden.“ Papen war anderer Meinung und fragte sie: „Wer soll denn Hindenburgs Nachfolger werden? Etwa Hitler? Nein, der Tod des Alten ist der ‚moment psychologique‘ zur Wiedereinsetzung der Hohenzollern.“
Hindenburg zeigte noch über mehr als ein Jahr eine weitgehend robuste Gesundheit und verstarb am 2. August 1934. Franz von Papen konnte seinen Plan nicht verwirklichen. Dazu war sein Vorgehen als Reichskanzler, danach als Hitlers Vizekanzler und ab März 1934 als Beauftragter Hindenburgs für den Entwurf seines politischen Testaments zu arglos und durchsichtig. Unvorsichtigerweise vertraute der Beauftragte seinen testamentarischen Nachfolgeplan Adolf Hitler so frühzeitig an, dass dieser sich bereits einen Tag vor Hindenburgs Tod mit dem „Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches“ die Machtvollkommenheit im „Dritten Reich“ sichern konnte.11
Für den 1. August 1934 hält Hannah von Bredow im Tagebuch fest: „Hitler in Neudeck. Hindenburg trat um 6.30 p.m. ins Koma ein“; und am nächsten Tag: „Hindenburg gestorben um 9. a.m.“ Nur einen Tag darauf, am 3. August, erkennt Hannah die Tragweite der Vereidigung der Soldaten durch Reichswehrminister Werner von Blomberg nicht mit dem Schwur auf die Verfassung, sondern auf Hitler: „The army has been sworn and so we have an absolute dictatorship.“
Die Agonie der Weimarer Republik bis zu Hitlers Machtantritt am 30. Januar 1933 zeichnet Hannah von Bredow in Tagebuch und Briefen im Detail auf. Das Ergebnis der letzten Reichstagswahlen der Weimarer Republik am 6. November 1932 wertet sie am selben Tag in ihrem Tagebuch: „Nun fällt Papen bestimmt und ich wette 10:1, dass man erst Schleicher dranlässt statt Hitler.“ Hannahs Vorhersage traf knapp einen Monat später ein, als Hindenburg nach Papens Rücktritt am 17. November und vergeblichen Verhandlungen über Hitlers Regierungsbeteiligung Schleicher am 2. Dezember 1932, einem Freitag, mit der Bildung eines neuen Präsidialkabinetts beauftragte.
Nach einem Gespräch mit Erwin Planck befindet Hannah von Bredow: „An einem Freitag soll man nichts beginnen! Aber heute ist Schleichers Traum zur Hälfte erfüllt. Er ist Kanzler!! Nun hofft er natürlich auch noch auf den Reichspräsidenten.“ Auch dank der Hintergrundarbeit seines direkten Amtsvorgängers währte Schleichers Kanzlertraum nur kurz, bis zum 28. Januar 1933. Sein Versuch, den Hitlerrivalen und studierten Apotheker Gregor Strasser für sein Kabinett zu gewinnen und die NSDAP zu spalten, scheiterte kläglich.
Der unerwartete NSDAP-Wahlsieg in Lippe am 15. Januar 1933 hatte Hitlers Position gestärkt, wie Hannah von Bredow ihrem Briefpartner am 19. Januar bestätigt: „Nach den lippeschen Wahlen wurde der Apotheker weniger laut, und jetzt hat er erklärt, ohne das Einverständnis Marii [Hitlers] fühle er sich nicht im Stande, die Verantwortung zu ertragen. Er müsse leider, leider darauf verzichten, in Fouchés [Schleichers] Kabinett einzutreten.“
Im Hause Bismarck setzte Gottfried Anfang Januar 1933 noch Hoffnung in Gregor Strasser, den machtbewussten Reichsorganisationsleiter der NSDAP. Hannah warnte ihn, da sie Hitlers Chancen im Machtkampf weit höher einschätzte. Falls Gottfried seine Zukunft weiter in der NSDAP sehe, müsse er sich auf Hitler stützen, riet sie ihm. Gregor Strasser und dessen Bruder Otto stünden schon auf Hitlers schwarzer Liste. Sydney Jessen berichtet Hannah am 8. Januar 1933 in Englisch: „I told Gottfried, that this was the most crucial and decisive moment in his life, and that I could only repeat again and again: hands off both Hitler and Gregor, but if he absolutely insists, he must stick to Hitler to save his skin. Hitler means murder, and why should Gottfried be murdererd by that scoundrel.“
Zwei Tage darauf, am 10. Januar 1933, erklärt Hannah von Bredow ihrem Bruder Gottfried in Friedrichsruh: „I am certain that Hitler will win, alas, alas for Germany and for the world. ‚Goebbels ist klug‘, said Gottfried. Good Lord! As if that mattered.“ Resignierend zitiert Hannah dann am 28. Januar die Haltung vieler ihrer Gesprächspartner zu Hitler: „Den machen wir in 6 Wochen fertig.“ Und sie kommentiert: „Der macht uns alle so fertig, dass wir nie mehr zur Erholung kommen. Aber was hilft’s. Quem deus vult perdere!“12 Einen Tag nach diesen Gesprächen vertraut Hannah am 29. Januar schließlich ihrem Tagebuch an: „They say Hitler is not coming in! I offered bets 1:1000 he would be in by tomorrow. If only Gottfried were not in it.“
Die Ereignisse vor und nach dem historischen 30. Januar 1933 beobachtet Hannah von Bredow sehr genau.13 Die Sachverhalte, die zur sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten führten, konnte sie detailliert beschreiben, einordnen und bewerten, weil sie durch ihre Bekannten, insbesondere Erwin Planck und Rudolf von Schmidtseck, Geschäftsführer der Berliner Philharmoniker und NS-Mitglied, sowie ihre Brüder Otto und Gottfried von Bismarck unmittelbar Einblick in die damaligen Ereignisse hatte. Zur Machtübernahme Hitlers bemerkt sie am 30. im Tagebuch: „So, jetzt haben wir die Nazis. Hitler ist Kanzler. Die Begeisterung grenzenlos. Riesiger Fackelzug. Der alte Mann stand von 8–11.30 und ließ sich auch huldigen.“
Am folgenden Tag, dem 31.1., erkennt Hannah: „Die Welt ist aus den Fugen, und wir können nur abwarten, bis uns das Genick umgedreht wird. Schauerlich. Die Menschen sind alle toll. Ich habe so etwas doch nicht für möglich gehalten. Ach, Gottfried! Er wird furchtbare Dinge erleben.“ Entsetzen, Wut, aber auch Mitleid bestimmen den Eintrag am 1. Februar: „Es wird ja immer schöner. Die Tobsucht, die Hysterie und dazu der Greis Hindenburg. Papen verdient, gehängt zu werden. Der arme Planck!“
Wenig