Selbst wenn Hannah von Bredow ihre Selbsteinschätzung und das von ihr erwartete Rollenverständnis einen Vergleich mit ihrem Großvater Otto von Bismarck verboten, wusste sie, dass dieser seine Privatbriefe auch für die Nachwelt schrieb. Hannahs Haltung zu den eigenen Briefen dagegen wurde durch die Veröffentlichung der sehr privaten Briefe ihres Vaters Herbert von Bismarck im Nachlass seines Freundes Fürst Eulenburg-Hertefeld im Jahre 1923 bestimmt.
Gleichermaßen mit ihrem Vater wie mit ihrem Großvater teilte Hannah von Bredow andererseits eine Eigenschaft, die für ihr Schreiben bestimmend war und die sie für ihre ständige innere Unruhe verantwortlich machte: „Genau zu wissen, was kommt“. Viele ihrer Briefe und Tagebucheintragungen belegen Hannahs ausgeprägte Fähigkeit zur Vorhersage von Ereignissen, zur Prognose. Ihre damit verbundene Unruhe bemühte sie sich, in den Schreiben an Jessen endgültig loszuwerden. Dies erklärte Hannah ihm im Sommer 1931 und ergänzte: „So flüchte ich mich nicht in die Öffentlichkeit, sondern ins Tintenfass und von da ins Feuer, wofür Sie bitte Sorge tragen werden.“
Zum Glück für die Nachwelt kam Sydney Jessen dem Wunsch Hannah von Bredows nicht nach. Ihre erhalten gebliebenen Briefe an ihn, an ihre Freunde und Familienangehörigen sowie ihre Tagebuchaufzeichnungen vermitteln dank der darin enthaltenen detaillierten gesellschaftlichen und politischen Beobachtungen und Reflexionen einen tiefen Einblick in die ausgehende Monarchie, in den Todeskampf der Weimarer Republik und in die Willkürherrschaft des Nationalsozialismus. Das Privileg einer „höheren“ Geburt, mehr aber noch ihre breite Bildung, ihr scharfer Verstand und ihr außergewöhnliches Gedächtnis verschafften Hannah von Bredow den Zugang zu den Elitekreisen ihrer Zeit. Bereits früh hatte sie eine enge geistige Verbindung zu ihrem Vater und Großvater verspürt und entwickelte ein ausgeprägtes Interesse an Geschichte und Politik, welches sie durch ausgiebige Lektüre und intensive Gespräche stillte.
Die schriftlichen Selbstzeugnisse aus den letzten Jahren der Weimarer Republik sowie der gesamten Zeit der NS-Diktatur weisen Hannah von Bredow als ebenso scharfsinnige wie scharfzüngige Chronistin der Jahre von Unsicherheit und folgender Tyrannei als eine „Femina Politica“, aus. So traf sie mit dem Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zusammen und führte wiederholt Gespräche mit den letzten Weimarer Kanzlern Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher. Ihr ständiger Gesprächspartner und Informant war von Januar 1931 bis Januar 1933 der enge Vertraute der Reichskanzler, die „graue Eminenz“ Erwin Planck.
Früh machten die Brüder Otto und Gottfried von Bismarck ihre Schwester Hannah von Bredow auch mit Adolf Hitler, Hermann Göring sowie mit anderen NS-Größen und Wirtschaftsführern bekannt. Im Auswärtigen Amt unterhielt sie Kontakte zu Ministern und Staatssekretären sowie in verschiedenen deutschen Auslandsvertretungen zu Botschaftern. Regelmäßig erhielt sie Einladungen zu Empfängen und Essen von ausländischen Botschaften in Berlin und hatte Mitarbeiter von diesen bei sich zu Gast.
Von den verschiedenen Treffen mit Prominenten schildert Hannah von Bredow ihrem Vertrauten Sydney Jessen zeitnah und minutiös ihre Eindrücke und bemerkt hierzu: „Wenn ich so schnell aufschreibe, was ich gesehen und gehört habe, so versuche ich nur eines, die Situation möglichst wahrheitsgetreu wiederzugeben und die in Anführungsstrichen stehenden Reden möglichst im Wortlaut.“ Hannah von Bredows durch ihre Sehschwäche entwickelte außergewöhnliche Hörfähigkeit und ihr von dritter Seite immer wieder bestätigtes ausgezeichnetes Gedächtnis sprechen für eine hohe Authentizität ihrer schriftlichen Selbstzeugnisse.
Femina Politica
„Ich bin in diesen Tagen doch zu der Überzeugung gelangt, dass es ein Fehler ist, als Frau geboren zu sein, wenn man geistige Interessen hat.“
(Hannah von Bredow an Sydney Jessen, Nr. 670 – Potsdam, Sonntag, den 6. Februar 1938)
Hannah von Bredow verstand sich selbst nicht als eine politische Frau. Mitte des Jahres 1931 erklärt sie Sydney Jessen: „Sie wissen, dass ich weder Interesse, noch Verständnis, noch Flair für Politik in irgendeinem Sinn habe, und dass ich sowieso ein lebhaftes Grauen vor politisch tätigen Frauen empfinde. Politics are essentially mens’work – dass die Sache bei uns so häufig schiefgeht, ändert an der Wahrheit meiner Behauptung nichts.“ Auch bei ihr ging die Sache schief, denn, anders als behauptet, zeigte sie seit ihrer Jugend ein ausgesprochenes Interesse und Verständnis für Politik.
Politisch aktiv war Hannah von Bredow zweifellos auch zu Beginn der Hitlerdiktatur nicht, als sie sich ständig mit der Frage auseinandersetzte, was sie über das Regime denke und wer sie sei: „Ich weiß nur, was ich nicht bin, ich bin nicht Angehöriger irgendeiner Partei, ich bin sicher kein Sozialist, bestimmt kein Demokrat, auch nicht ein Legitimist, vielleicht kein Monarchist, gewiss kein Republikaner – jedenfalls nicht im Sinne der bisherigen deutschen Republik – ich bin kein Kommunist, also passe ich wohl nirgends hin. Aber im Grunde halte ich diese Ungebundenheit bei Frauen für das einzig Wahre, besonders bei solchen, die mit der Öffentlichkeit nichts zu tun haben. Man wirkt aber dadurch manchmal aufreizend, da jeder einen verachtet, weil man keine Hakenkreuzfahne am Haus hat und keine Abzeichen trägt.“
Ihr Verhältnis zu politischen Fragen beschreibt Hannah ihrem Briefpartner Jessen als irrational und sogar beängstigend: „Wenn mein Leben von Politik der Vergangenheit oder Zukunft in irgendeiner Weise gestreift wird, oder wenn ich mich sogar hinein vertiefen muss, dann wird plötzlich etwas ganz tief Vergrabenes und Zugesiegeltes in mir lebendig. Und dieses Etwas dehnt sich nach allen Richtungen, lässt mir keine Ruhe und gibt mir das geradezu groteske Gefühl, dass ich – bitte stellen Sie sich das nur vor! – derartigen Situationen vollkommen gewachsen wäre, mich in ihnen, je komplizierter sie werden würden, umso sicherer bewegen könnte, ja ich komme mir zu meinem Entsetzen wie eine Art Antenne vor, die spürt, was in der Luft liegt – oh es ist grässlich.“ In solchen Fällen wusste Hannah „genau, was kommt“, und versuchte, ihre innere Unruhe in den Briefen an Jessen loszuwerden.
Bester Informant Hannah von Bredows über das politische Geschehen im inneren Zirkel der Macht war in den beiden letzten Jahren der Weimarer Republik der gleichaltrige Erwin Planck, Sohn des Physikers und Nobelpreisträgers Max Planck. Nach dem Abitur hatte Erwin Planck die Militärlaufbahn eingeschlagen und wurde nach dem Krieg dem Generalstab zugeordnet. Dort lernte er Kurt von Schleicher kennen, der ab 1929 das Reichswehrministerium und ab Dezember 1932 bis zu Hitlers Machtantritt kurzfristig das Reichskanzleramt leitete.
Zwischen Schleicher und Planck entstand bald ein enges Vertrauensverhältnis. Schleicher war im Jahre 1923 Trauzeuge von Erwin und Nelly Planck. Ein Jahr später begann Plancks Karriere als Verbindungsmann des Reichswehrministeriums in der Reichskanzlei. Vom Referenten stieg er 1930 im „Kabinett der Frontsoldaten“ des Reichskanzlers Brüning zu dessen persönlichem Sekretär und ab Juli 1932 zum Staatssekretär unter dessen Nachfolger Franz von Papen auf. In den letzten Jahren der Weimarer Republik galt Erwin Planck als „graue Eminenz“ der Kanzler.
Prägend für Erwin Planck war die großbürgerliche Atmosphäre seines Elternhauses: Musizieren, Opernbesuche und intellektuelle Diskurse waren selbstverständlich. Er war ein guter Cellist und traf sich regelmäßig mit seinem Vater und Albert Einstein zum Triospiel. Erstmals im September 1930 erwähnt Hannah von Bredow eine Einladung im Hause Planck und beschreibt Sydney Jessen im Februar 1931 eine weitere Gesellschaft: „Es wurde viel politisiert und Planck Junior gab seine Ideen bereitwillig zum Besten: ‚Die Nationalsozialisten haben ausgespielt, die einzige Gefahr sind die Kommunisten, deren Macht wächst. Die Deutschnationalen sind untauglich, die Volkspartei ebenso, Treviranus1 hat vielleicht doch Chancen, das Zentrum ist noch immer mächtig, Braun in Preußen desgleichen. Brüning ist der einzige Kanzler von Format seit 1890, Schleicher arbeitet nur pro domo, wird aber einen Freund nie fallen lassen …‘“ Hannah ergänzt: „Das war der langen Rede kurzer Sinn. Planck Senior hörte interessiert zu und sagte mir: ‚Erwin ist so geschmeidig, der würde das alles schon schaffen; Brüning hält sehr viel von ihm.‘“
Hannah von Bredow hielt nicht ganz so viel von Erwin Plancks Fähigkeiten, wusste aber seine Verehrung für sie und seine Auskunftsfreudigkeit zu schätzen. Zeitweise telefonierten beide täglich miteinander, trafen sich regelmäßig