So ergab es sich von selbst, dass die Freunde nach der anstrengenden Arbeit zwar gemeinsam zu Abend aßen, aber keine weiteren Pläne schmiedeten. Eigentlich war es ja auch ganz angenehm, nach der Hitze eines langen Tages auf der weinberankten Terrasse zu sitzen und auf das Meer hinauszublicken. Dieses Vergnügen der früheren Touristen zumindest konnte Soul nachvollziehen.
Heute hockten sie nach einem schmackhaften Abendessen noch ein wenig länger zusammen. Eine angenehme Kühle wehte vom Wasser zur Terrasse herüber, und das Zirpen der Zikaden, das auch hier und jetzt überall zu hören war, wirkte erstaunlich beruhigend auf ihre Gemüter.
„Ob die Natur uns so müde macht?“, fragte Botoja, als sie sich ein paar Liegestühle schnappten, um in der Dämmerung noch ein wenig am Strand zu sitzen.
„Es ist das Klima“, bestätigte Soul, „und immerhin sind wir viel auf den Beinen.“
Das leuchtete ein.
Eine Weile saßen die Freunde schweigend nebeneinander, den Wellensaum zu ihren Füßen beobachtend, dem Flüstern der Bäume lauschend, ihren eigenen Gedanken nachhängend. Irgendwann drückte Reb auf sein Technikarmband und deutete den anderen an, es ihm gleichzutun. Die Freunde gehorchten und schalteten ihre Armbänder ebenfalls aus.
„Man kann ja nie wissen“, ergänzte er laut.
„Und die Liegestühle?“, fragte Mortues.
„Unwahrscheinlich. Woher sollen sie im Voraus wissen, welchen der Blechgestelle wir uns aussuchen.“
Er schaute in die Runde.
„Also?“
„Also was?“
„Lasst uns mal sammeln, was wir bisher wissen.“
„Nichts.“
„So gut wie nichts.“
„Nichts Brauchbares.“
„Das weiß man vorher nie“, widersprach Reb.
„Ach, wir sollten einfach unsere Arbeit beenden und dann so schnell wie möglich nach Hause fliegen“, murrte Botoja.
Soul grübelte.
„Was haltet ihr von einem Jeep, der gerne zum Hotel zurückfährt, aber immer dann, wenn er in Richtung einer bestimmten Schlucht fahren soll, seinen Geist aufgibt?“
„Fernsteuerung“, meinte Reb, „sie schalten die Zündung aus.“
„Gab es denn früher so etwas schon?“, fragte Mortues.
„Früher nicht“, erklärte Reb, „aber im Zeitalter des voll automatisierten Alltags wird man ja wohl fähig sein, der modernen Technik ein neues Gewand“, er verbesserte sich, „einen alten Blechkasten überzustülpen. Sie wollen nicht, dass wir zu dieser Schlucht fahren.“
„Das ist ja grauenvoll“, stöhnte Soul, „jetzt sind wir schon in der nackten Natur und immer noch nicht allein.“
„Big brother is watching you“, ergänzte Reb.
„Kennt ihr nicht?“, fragte er, als die anderen ihn verdutzt ansahen. „War im zwanzigsten Jahrhundert ein Klassiker. Solltet ihr mal lesen.“
„Genützt hat es trotzdem nichts“, ergänzte Soul, die sehr wohl wusste, von welchem Schriftstück ihr Bruder redete.
„Im Grunde bist du nirgends vor Zuhörern sicher“, meinte Mortues. „Theoretisch könnten sich sogar in euren Bikinis Fasern zum Abhören befinden.“
Die Männer grinsten, als Soul und Botoja unbewusst an sich hinunterblickten. Denn natürlich hatten die beiden Frauen ihre Badekleidung längst gegen Jeans und T-Shirts ausgetauscht, und ihre Bikinis hingen, gewaschen und ausgewrungen, an den provisorischen Wäscheleinen auf ihren Balkonen.
„Solche Fasern sind doch längst verboten“, beruhigte Reb. „Die Stichproben sind streng und die Strafen bei Verstößen auch nicht von Pappe.“
Soul stand auf.
„Was hast du vor?“, fragte Botoja ahnungsvoll.
„Jetzt will ich’s wissen“, erwiderte sie und ging die paar Schritte bis zum Wasser.
„Hilfe“, sagte sie leise, „ich brauche Hilfe.“
Die anderen blickten sich erschrocken an.
„Lass das!“, schimpfte Botoja.
„Hilfe“, wiederholte Soul ein wenig lauter.
„Bist du verrückt? Du sollst das lassen!“
„Hilfe, Hilfe, ich brauche Hilfe!“, schrie sie laut und wedelte mit den Armen. „Hört mich denn niemand? Ich brauche Hilfe, Hilfeeeeeee!“
Sie wurde immer lauter.
Auf der Terrasse erschien ein alter Mann.
„Ist alles in Ordnung?“, rief er herüber.
„Ja, danke“, rief Soul zurück, „ich wollte nur wissen, ob mich im Hotel jemand hört!“
„Das ist nicht Ihr Ernst!“, schimpfte der Alte. „Mit so etwas treibt man keinen Schabernack, junge Dame. Wir haben Ihre Schreie bis in die Küche gehört und uns ernsthaft Sorgen gemacht. Wenn Sie das nächste Mal ein ähnlich pubertäres Bedürfnis verspüren, nehmen Sie am besten ein kaltes Bad.“
Ungehalten drehte er sich um und stapfte ins Haus zurück.
Die Freunde schwiegen betreten. Soul ließ sich auf ihren Liegestuhl fallen und hielt den Mund. Reb dachte an etwas ganz anderes. Er hätte schwören können, im Schein der Terrassenlampen das Gesicht des alten Mannes von der Spiegelwand erkannt zu haben.
13
Soul wollte ein wenig abschalten und war mit dem Fahrrad zum Strand gefahren. Obwohl dieser Küstenabschnitt nur ein paar Kilometer vom Hotel entfernt lag, war hier auch heute kein Mensch zu sehen. Noch traute sich kaum einer der Gäste ohne fachmännische Begleitung in diese Wildnis. Sie selber hingegen liebte die Küste. Sie fühlte sich auf Kreta schon fast mehr zu Hause als in ihrer nüchternen Stadtwohnung in Tambara, und ein Tag ohne Natur kam ihr vor wie ein verlorener Tag. Die Sonne zeigte sich mild und versöhnlich, und die vom Meer herüberwehende leichte Brise erfrischte Geist und Körper. Soul schlenderte barfuß am Strand entlang, beobachtete das Spiel der Wellen, lief mit den Füßen durchs Wasser, spürte das Kribbeln der Schaumkronen auf ihrer Haut und fühlte, wie sich bei jedem Schritt der Sand unter ihren Füßen ein ganz klein wenig zwischen die Zehen drückte.
Mortues und Reb wollten einen Männertag einlegen und waren in Richtung Iraklion verschwunden, und Botoja glaubte, unbedingt noch einige Ideen für ihre Spielzeugreihe in den Computer eingeben zu müssen. „Krankheit der Kreativen“, nannte sie das.
Soul ging ein wenig tiefer ins Wasser und peitschte mit dem Schienbein gegen die Wellen. Vielleicht wollten die drei aber auch nur Abstand gewinnen von einer Freundin, die sie aufgrund ihres überbordenden Temperamentes wieder einmal in eine peinliche Situation gebracht hatte. Der Hilferuf gestern war wirklich mehr als unangebracht gewesen und hatte das Verhältnis zu ihren Gastgebern um einiges abgekühlt.
Aus der Ferne kam Soul ein Mann entgegen. Er war angezogen wie ein Fischer, seine bis zu den Knöcheln umgeschlagene Hose ein wenig zerknittert, das Hemd darüber bestimmt nicht ganz sauber. Ohne sie zu beachten, steuerte er auf ein Ruderboot zu, das nicht weit von ihr am Strand lag. Er schob es ins Wasser, kletterte hinein und fuhr davon. Obwohl das Holz, aus dem das Boot gezimmert war, sicher nicht leicht zu beherrschen war, schien der Fischer sich nicht sonderlich anstrengen zu müssen. Fast mühelos durchschnitt der Rumpf seines Gefährts die Wellen. Bald waren Boot und Besitzer so klein, dass sie miteinander zu verschmelzen schienen. Schließlich verschwanden sie vollends im Dunst der Ferne.
Soul ging zu der Stelle, an der sie den Liegeplatz des Bootes