In den Osterferien war sie für zwei Wochen bei ihren Eltern im Sauerland gewesen. Ihr Vater war Revierförster. Das Forsthaus lag an einer einsamen Straße im Wald. Sie liebte es, mit ihrem Vater auf die Pirsch zu gehen. Besonders im Frühling, wenn des Morgens die Vögel erwachten und das Wild für Nachwuchs sorgte.
An Josef Tann hatte sie gar nicht mehr gedacht. Kaum war sie zurück, rief er an. Sie war nicht begeistert, hatte aber zugesagt. Es würde ein öder Abend werden mit diesem aufgeblasenen Polizisten. Sie war unschlüssig, was sie tragen sollte. Jeans oder etwa einen eleganten Hosenanzug? Ärgerlich schaute sie auf die Uhr und holte ihre dunkelblaue Jeans mit der passenden Weste und einen mintfarbenen Rolli. Kaum hatte sie sich angezogen, klingelte es. Verärgert schaute sie auf ihre Armbanduhr. Es war schon zehn Minuten über die verabredete Zeit. Zu spät um die Haare hochzustecken, dachte sie. Schnell fuhr sie mit der Bürste durch den dichten Schopf und ging zur Tür.
»Guten Abend!«, begrüßte Josef Tann sie etwas steif und überreichte ihr einen Strauß gelber Tulpen.
Es war laut in der kleinen Kneipe. Sie saßen in einer Ecke und die Kellnerin hatte gerade das Bier gebracht.
»Prost, Frau Lehrerin!«, sagte er grinsend.
Cäcilia Brand lächelte und trank ihm zu.
»Aber Herr Kommissar, warum so förmlich, ich heiße Cäcilia, meine Freunde nennen mich Cil.«
»Cil klingt nett. Zu mir sagen fast alle Jupp«, antwortete er.
»Mögen Sie es nicht, wenn man Sie Jupp nennt?«, erkundigte sich Cil interessiert.
Er zuckte die Schultern. »Na, ja. Meine Mutter sagt manchmal Jos, früher habe ich das gemocht.«
»Jos hört sich gut an.« Sie lächelte wieder.
Er stellte fest, dass ihr Gesicht nicht mehr ganz so blass war wie zuvor. Der Alkohol tat ihr gut.
Cil fühlte sich wohl. Die Kneipe gefiel ihr und ihr Gegenüber war sympathischer, als sie gedacht hatte. Tann hatte nochmals bestellt. Cil spielte mit dem Bierdeckel, bis die Kellnerin erneut servierte. Als er ihr zu prostete, nippte sie nur und erinnerte ihn:
»Wollten wir uns nicht über Susanne Gressmer unterhalten?«
Josef Tann war ganz woanders mit seinen Gedanken und schaute überrascht auf, fing sich jedoch sofort.
»Ist Ihnen im Sportunterricht irgendetwas aufgefallen? Haben die Schüler sich über den Fall unterhalten?«
»Natürlich haben sie darüber gesprochen! Aber selbst die beste Freundin von Susanne, Veronika Brauer, konnte sich den Selbstmord nicht erklären«, gab Cil sinnierend zurück.
»Hatte Susanne denn keinen Freund?«
Er sah sie aufmerksam an und strich dabei mit dem rechten Zeigefinger über den Rand seines Glases.
»Ich glaube nicht, zumindest keinen der Schüler. Ich hatte eher den Eindruck, dass Susanne an älteren Männern interessiert war. Sie führte oft ein Gespräch mit Herrn Klausen.«
Cil hatte einmal gesehen, wie Susanne Gressmer sich mit dem Oberstudienrat Klausen unterhielt. Das Mädchen himmelte ihn an. Tann war jetzt wieder ganz Kommissar. Sein Gesicht war ernst, und Cil konnte fast sehen, wie es in seinem Gehirn arbeitete.
»Klausen hat behauptet, er kenne das Mädchen nur flüchtig.«
»Wer kennt schon einen Schüler wirklich? Er kennt sie aus der Schule. Schließlich war er ihr Klassenlehrer. Oberstudienrat Klausen unterrichtet Englisch und Mathematik.«
Tann hatte Cil nachdenklich zugehört. Dann fiel ihm etwas ein. »Haben Sie schon einmal vom Schorsch, dem Holzschnitzer gehört? Frau Gressmer war vorgestern bei der Polizei. Sie war der Meinung, Georg Osthager habe ihrer Tochter nachgestellt.«
»Das ist doch Blödsinn! Der Schorsch tut keiner Fliege etwas zuleide!«, ereiferte sich Cil.
»Wir reden hier aber nicht über Fliegen«, schmunzelte Tann, was ihm einen strafenden Blick aus tiefblauen Augen einbrachte.
»Machen Sie sich nur lustig. Ich finde es einfach empörend, dass jemand schon in Verdacht gerät, nur weil er ein wenig sonderbar ist. Alle Schüler waren schon einmal in der Holzschnitzerei. Schorsch ist ein Künstler.«
»Nun regen Sie sich mal nicht so auf! Man könnte meinen, Sie hätten ein persönliches Interesse an dem jungen Mann.«
Tann lachte und bestellte ein neues Pils.
»Ich rege mich nicht auf. Ich finde es nur ungerecht, dass ein Mensch, der schon genug durchgemacht hat, bei jeder Gelegenheit als Sündenbock herhalten soll«, rügte Cil ein wenig versöhnlicher gestimmt.
Tann ergriff ihre Hand, spürte, dass sie zurückzuckte, und ließ sie gleich wieder los.
»Keine Sorge, Frau Lehrerin, ich vergreife mich nicht an Ihnen«, frotzelte er und sie wurde puterrot.
»Ein unverschämter Kerl sind Sie. Ich frage mich wirklich, warum ich hier sitze«, fauchte sie.
Jetzt breitete sich ein Lächeln in seinem Gesicht aus und der Schalk blitzte in seinen Augen.
»Weil ich so ein toller Typ bin, oder?«
Sie wusste nicht so recht, sollte sie zornig werden oder einfach lachen, entschied sich dann aber für Letzteres.
»So gefallen Sie mir! Ich mag Frauen, die gern lachen.«
Die Kellnerin brachte das Bier und er hob sein Glas, um mit ihr anzustoßen.
»Prost, Cil! Sollten wir nicht einfach Du zueinander sagen, wo wir doch so herrlich miteinander streiten können?«
Cil hob ebenfalls ihr Glas. »Nur wenn du mir versprichst, in den nächsten Tagen einmal in Schorschs Werkstatt vorbeizuschauen.«
»Abgemacht! Wenn dir so viel daran liegt.«
Sie saßen fast bis Mitternacht in dem kleinen Lokal. Als Cil endlich wieder zu Hause war, galt ihr letzter Blick vorm Schlafengehen dem Strauß gelber Tulpen.
Gernot Gressmer kam aus dem Krankenhaus. Seine Frau hatte einen Nervenzusammenbruch gehabt. Er hatte mit dem Arzt gesprochen. Die Behandlung würde einige Zeit dauern.
Die letzten Wochen waren hart gewesen. Der häusliche Stress um den Selbstmord seiner Tochter hatte seine berufliche Leistung stark beeinträchtigt. In seiner Firma hatte man ihm nahegelegt, eine Kur zu machen. Anfangs verärgert darüber, hatte er nach einem Gespräch mit dem Betriebsarzt eingesehen, dass er wirklich eine Auszeit brauchte. Die Krankenkasse hatte schnell und problemlos reagiert. In zwei Wochen war es soweit. Heidelinde war gut versorgt und würde die nächsten Wochen ohnehin in der Klinik bleiben müssen.
Er hatte bis zum Beginn der Kur Urlaub. Unschlüssig lief er durch das leere Haus. Irgendwann betrat er Susannes Zimmer. Er setzte sich auf das Bett und schaute sich um. Auf dem Nachttisch lag ein Tagebuch. Er nahm es in die Hand und las einige Zeilen. Nichts von Bedeutung. Er blätterte weiter und sah, dass mehrere Seiten am Schluss der Eintragungen herausgerissen waren. Seufzend legte er das Buch zur Seite. Es war müßig, sich zu überlegen, warum Susanne die Seiten herausgetrennt hatte. Diese Grübeleien hatten bei Heidelinde zu einem Zusammenbruch geführt.
Woher sollte man wissen, was in dem Kopf eines jungen Mädchens vorging? Er war so stolz auf seine Tochter gewesen. Besonders im letzten Jahr waren ihre schulischen Leistungen hervorragend gewesen. Ob sie einen Freund gehabt hatte? Was war mit diesem Osthager von dem seine Frau erzählt hatte? Vielleicht wusste er etwas. Den kleinen hölzernen Engel hatte seine Frau neben das Tagebuch gelegt. Er nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn. Es war eine gute Arbeit. Seufzend legte er ihn zurück und verließ das Zimmer.
II