»Ich werde einige Beamte zum Unfallort schicken, um alles nochmals gründlich abzusuchen. Aber ich kann Ihnen natürlich nicht garantieren, dass er gefunden wird, Ihre Tochter könnte ihn überall verloren haben.«
»Das kann natürlich sein«, antwortete Gressmer und setzte hinzu: »Wir sollten fahren.«
Dann gingen sie zusammen hinaus.
Das Gelb der Sonnenblumen leuchtete in der Sonne, die geradewegs durch das Fenster auf Susannes Lieblingsbild fiel, Sonnenblumen von van Gogh als Poster in schlicht schwarzem Rahmen. Susanne hatte es vor einiger Zeit billig in einem Kaufhaus erstanden. Heidelinde Gressmer stand davor und hatte noch immer keine Antwort auf ihre Frage. Seit einer halben Stunde war sie schon in Susannes Zimmer. Es war ordentlich aufgeräumt. Neben dem Schreibtisch stand die Schultasche fertig gepackt, wie jeden Abend. Die Gitarre stand ordentlich auf dem Ständer neben dem Schrank. Das Bett war gemacht und auf dem Nachttisch lag ein Taschenbuch mit einem roten Lineal als Lesezeichen.
Nichts wies darauf hin, dass Susanne das Leben leid war. Kein Abschiedsbrief, keine Nachricht, nichts. In der Schublade des Nachttisches lag das kleine rote Tagebuch, welches Susanne zum zehnten Geburtstag bekommen hatte. Heidelinde blätterte ein wenig darin herum. Die letzte Eintragung war von Weihnachten. Dann waren einige Seiten herausgetrennt. So hatte Susanne es oft gemacht. Wenn ihr der Text nicht gefiel, riss sie die Seite heraus.
Heidelinde seufzte. Die Tränen kamen erneut. Sie setzte sich auf das Bett, ihr war schwindelig. Der Arzt hatte ihr eine Beruhigungsspritze gegeben und sie hatte etwas geschlafen. Trotzdem fühlte sie sich nicht ausgeruht. Wo Gernot nur blieb? Es war noch so viel zu regeln. Wenn sie nur eine Idee hätte, was wirklich geschehen war.
›Warum Susanne? ‹, dachte sie. Was hatte sie da nur nicht mitbekommen? Sie hatte versagt. Susanne hatte kein Vertrauen gehabt, nicht einmal zu ihrer Mutter, sonst hätte sie ihr doch von ihren Sorgen erzählt. Sie muss Kummer gehabt haben! Warum sonst? Heidelindes Gedanken drehten sich im Kreis. Plötzlich hörte sie Schritte auf der Treppe. Gernot war zurück.
Kommissar Tann kam erst gegen fünfzehn Uhr wieder in sein Büro. Er war nicht zufrieden. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass Susanne Gressmer nicht ganz freiwillig aus dem Leben geschieden war. Der verschwundene Schlüssel ging ihm nicht aus dem Kopf. Heidelinde Gressmer hatte ihm das Zimmer ihrer Tochter gezeigt. Es war penibel aufgeräumt. Die Schulaufgaben waren gemacht. Ein Buch auf dem Nachttisch und ein Einkaufszettel für das Mittagessen in ihrer Schultasche gaben weiß Gott keinen Hinweis auf einen Suizid. Sie mussten etwas übersehen haben. Einer plötzlichen Idee folgend griff er zum Telefon.
An der Theke herrschte Hochbetrieb. Der örtliche Fußballverein hatte zwei zu null gewonnen und lautstark drängelten sich die durstigen Fans um die Theke, um die vom Anfeuern trockenen Kehlen zu ölen. In einer Ecke auf einer gepolsterten Bank saßen Alfons Weiß und sein Kollege Josef Tann und tranken ihr Bier. Sie hatten sich ebenfalls das Spiel angesehen und waren guter Stimmung. Ein leicht angetrunkener Fan stieß Tann seinen Ellbogen in die Rippen. »Hey, pass auf!«, protestierte er.
»Ach, der Herr Kommissar. Was sagen Sie denn zu unserer Susi! Schade um die Kleine, war so eine Süße. Komisch sind die Frauen! Wenn das heulende Elend kommt, drehen sie ab.«
Tann gab keine Antwort. Der Mann war noch sehr jung. Er kannte ihn nicht und wollte keinesfalls eine Diskussion über den Selbstmord Gressmer mit einem Angetrunkenen heraufbeschwören. Schnell wandte er sich seinem Kollegen Weiß zu.
»Dieser blöde Fall geht mir wirklich auf die Nerven. Und hört man mal etwas anderes, kommt so ein Trottel und erinnert einen wieder daran. Irgendetwas ist an dieser ganzen Sache faul«, knurrte er.
»Das hab ich auch längst gedacht, Jupp«, stimmte Weiß ihm zu. »Selbst der Obduktionsbericht ist mir unverständlich.«
Josef schaute ihn überrascht an: »Wieso der Obduktionsbericht?«
»Bist du schon mal irgendwo runtergesprungen?«
»Klar, zigmal, wieso?«
»Also, ich springe immer mit den Beinen zuerst nach unten.«
»Außer ins Wasser«, unterbrach ihn Jupp grinsend und bestellte eine neue Runde.
»Blödmann! Lass mich mal ausreden. Also, man springt gewöhnlich mit den Beinen zuerst. Die kleine Gressmer ist mit dem Kopf zuerst gesprungen. Die Obduktion hat ergeben, dass aufgrund der starken Kopfverletzungen davon auszugehen ist, dass sie mit dem Kopf zuerst aufgeschlagen ist.«
Die Kellnerin brachte das Bier und notierte den Betrag auf Tanns Bierdeckel. Beide nahmen einen tiefen Zug aus dem Glas und wischten sich dem Schaum vom Mund.
»Vielleicht hat sie sich über das Geländer gehängt und sich dann fallen lassen«, sinnierte Tann.
Alfons Weiß wiegte gedankenverloren den Kopf hin und her. »Das habe ich den Arzt, der die Untersuchung durchgeführt hat, schon gefragt. Dann wäre sie mit dem Rückgrat auf der Straße aufgeprallt.«
Tann schüttelte unwirsch den Kopf. »Wirklich blöd. Sie ist fast fünf Kilometer mit dem Rad gefahren, um sich umzubringen.«
Weiß nahm einen Schluck aus seinem Bierglas und meinte nachdenklich: »Vielleicht wollte sie vorher jemanden besuchen und hat ihn nicht angetroffen.«
Josef Tann zuckte die Schulter. »Egal, komm lass uns von etwas anderem reden.«
»Recht hast du. Ich bestell noch ’n Bier«, sagte Alfons und hob sein Glas der Kellnerin entgegen.
Im Polizeigebäude war Montagsstimmung. Die Beamten der Nachtschicht gingen gähnend heim, und die anderen begannen den Tag müde und fröstelnd. Ein kalter Wind war aufgekommen. Es regnete. Einzelne Schneeflocken mischten sich unter die Regentropfen. Die ersten Krokusse hatten ihre Blüten schnell wieder geschlossen. Der Wintermantel tat nach wie vor gute Dienste und die Frühlingsgestecke in den Blumenläden wirkten deplatziert.
Hauptkommissar Brunger hatte mit mattem Eifer die aktuellen Vorfälle studiert und seine Beamten zur Frühbesprechung begrüßt.
»Der Fall Gressmer scheint ein ganz gewöhnlicher Selbstmord zu sein. Ein Fremdverschulden kann bisher nicht festgestellt werden. Das Fahrrad weist außer denen der jungen Frau keine Fingerabdrücke auf. Fremde Faserspuren oder irgendwelche anderen Hinweise gibt es nicht. Nach dem verschollenen Haustürschlüssel wurde nochmals alles abgesucht. Leider Fehlanzeige. Den Schlüssel kann das Mädchen aber schon vorher verloren haben. Die Kollegen Tann und Weiß sollten heute noch einmal in der Schule vorbeisehen und die Lehrer und Mitschüler befragen. Ich denke, wenn auch dort keine weiteren Anhaltspunkte auftauchen, können wir den Fall abschließen.«
Alfons Weiß und Josef Tann nickten zustimmend.
»Warum kann der uns nicht direkt ansprechen?«, raunte Alfons seinem Kollegen zu. Der zuckte grinsend die Schulter und Brunger, aufmerksam geworden, schaute zu ihnen hinüber.
»Irgendwas unklar?«
»Alles in Ordnung, Herr Brunger, wir fahren dann gleich los. Zur großen Pause sind wir vor Ort«, antwortete Tann und die beiden verließen den Besprechungsraum.
Der Schulhof des Städtischen Gymnasiums war bevölkert von Schülern. Große Pause. Gruppen von Schülern standen Butterbrot kauend oder etwas trinkend herum. Die meistens tranken Cola, stellte Alfons Weiß fest. Überhaupt fiel ihm auf, dass sich seit seiner Schulzeit eine Menge geändert hatte. Waren vor Jahren noch Lehrer auf dem Schulhof zur Aufsicht konnte er jetzt niemanden entdecken.
Eine Traube aus Jungen und Mädchen hing an einem jungen Ding mit Stupsnase und rotem Pferdeschwanz. Sie trug Jeans und sah kaum älter aus als siebzehn.
Josef Tann stieß seinen Kollegen in die Rippen. »Schau mal die Rotblonde da. Was meinst du? Oberprima?«
Alfons Weiß grinste: »Nee, bei dem Auflauf bestimmt Lehrerin im Anerkennungsjahr.«
Beide