»Stimmt genau, Frau Lehrerin!«, sagte er mit Bedauern in der Stimme, konnte aber dennoch sein Grinsen nicht ganz unterdrücken.
»Machen Sie sich nur lustig! Was sagt denn Ihre Frau, wenn Ihre Kinder ohne Helm fahren? Findet die das auch lustig?«, schnaufte sie verärgert.
»Da ich keine habe, muss ich mir die Frage nicht stellen!« antwortete er und ließ dabei offen, ob er die Frau oder die Kinder meinte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber er setzte schnell hinzu: »Kinder sollten trotzdem unbedingt einen Helm tragen.«
Sie war verärgert, drehte ihr Haar zu einem glatten Zopf zusammen und stülpte sich den Helm wieder über.
»Wollen Sie schon weg? Sind Sie beleidigt? Ich würde Sie gern noch etwas fragen, wenn es Ihre Zeit zulässt.«
Er wollte sich noch mit ihr unterhalten.
»Beleidigt? Wieso? Wo Sie doch so höflich waren! Worum geht es denn?«, wollte sie pikiert wissen.
»Irgendwie geht mir dieses Mädchen nicht aus dem Kopf. Warum hat es sich nur umgebracht? Was sagen denn die anderen Schüler so? Haben Sie nicht etwas mitbekommen? Oder ist Ihnen das so egal?«, hakte er schnell nach.
»Ach deswegen stehen Sie hier. Vielleicht hat jemand nachgeholfen!«
Cäcilia Brant hatte hastig gesprochen. Doch kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wusste sie, dass es ein Gedanke war, den sie von Anfang an gehabt hatte.
Josef Tann sah sie an, bemerkte plötzlich, dass sie wunderschöne, lange Wimpern hatte, und ganz schmale Augenbrauen, dunkel und kupferfarben. Er beugte sich über das Geländer und meinte:
»Schauen Sie, sie muss kopfüber hinuntergesprungen sein.«
»So springt doch niemand! Schon gar kein Selbstmörder!«, entgegnete sie empört und schaute ebenfalls hinunter auf die Autobahn.
»Das habe ich auch gedacht«, sagte er und ohne Übergang fuhr er fort: »Was halten Sie davon, wenn wir unsere Vermutungen zu diesem Fall bei einem Glas Bier austauschen?«
»Vielleicht!« Sie lachte und ließ ihre ebenmäßigen Zähne sehen.
Er wollte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.
»Am Samstag habe ich frei.«
Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Die Ferien fangen an, da bin ich zwei Wochen lang nicht da.«
Er gab nicht auf: »Dann der erste Samstag nach Ferienende. Ich melde mich bei Ihnen.«
»Okay, ich wohne …«
Er winkte ab. »Nicht verraten! Schließlich bin ich Polizist!«, meinte er großspurig.
Cäcilia Brant zog eine Grimasse und schwang sich aufs Fahrrad. Gedankenverloren schaute er ihr nach.
Es war still auf dem Friedhof. Nur die Vögel in den Bäumen zwitscherten, was das Zeug hielt. Auf den Gräbern blühten Narzissen, Hyazinthen und Tulpen um die Wette. Alles war gepflegt und ordentlich.
Heidelinde Gressmer stand vor dem Grab ihrer Tochter und goss die frisch gesetzten Pflanzen. Der Grabstein war erst vor zwei Tagen aufgestellt worden. Pünktlich zum sechswöchigen Seelenamt war alles fertig geworden. Frau Gressmer war in den letzten Wochen merklich gealtert. Es war nicht allein die Trauer, es war die ständig wiederkehrende, bohrende Frage, warum Susanne fortgegangen war. Sie hatte in dem Zimmer ihrer Tochter alles umgedreht, das Tagebuch gelesen, in allen Papierkörben nach den herausgerissenen letzten Seiten gefahndet und immer und immer wieder von Neuem eine Antwort gesucht. Vergebens. Ihr Mann hatte sich in die Arbeit gestürzt und kam jeden Tag später heim. Nach dem ersten Schock hatten sie heftig gestritten. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen waren einer kühlen Distanz gewichen. Sie sprachen nur noch das Nötigste miteinander.
»Guten Tag, Frau Gressmer«, sagte eine freundliche Stimme hinter ihr.
Sie schrak auf und schaute in das Gesicht von Veronika Brauer. Sie hatte das Mädchen nicht kommen hören.
»Guten Tag, Veronika, wie schön, dass du da bist«, beteuerte Heidelinde und lächelte zaghaft.
»Ich komme öfter her«, erklärte Veronika scheu. Sie hatte ein Glas und einen Strauß roter Tulpen mitgebracht.
»Ich habe noch Wasser genug in der Kanne«, murmelte Heidelinde, füllte das Glas und drückte es neben dem Grabstein in die Erde. Veronika ordnete die Tulpen hinein. Die beiden Frauen standen eine Weile still da. Heidelinde Gressmer brach das Schweigen.
»Veronika, ich gäbe was darum, wenn ich nur wüsste, was da geschehen ist. Du warst doch täglich mit ihr zusammen, ist dir denn gar nichts aufgefallen?«
Veronika schüttelte stumm den Kopf.
Heidelinde Gressmer fasste in ihre Manteltasche und zog einen hölzernen Gegenstand heraus. Es war ein schlichter, handgeschnitzter Engel aus hellem Holz.
»In Susannes Nachttisch habe ich diesen Engel gefunden. Weißt du, wo sie ihn herhat?«
Veronika nahm den Engel und nickte.
»Solche Engel schnitzt der Georg. Alle nennen ihn Schorsch. Er hat seine Werkstatt auf dem Bauernhof Osthager in der Scheune. Wir sind oft mit dem Fahrrad hingefahren.«
»Was ist denn das für ein Mensch? Susanne hat gar nichts von ihm erzählt«, erkundigte sich Heidelinde erstaunt.
»Er ist bereits etwas älter. Dreißig oder so. Hat einen Vollbart. Den haben Sie bestimmt schon gesehen. Er war sogar auf der Beerdigung«, erklärte Veronika.
»Auf der Beerdigung? Ich erinnere mich nicht«, sagte Heidelinde und bemühte sich, ihre Aufregung zu verbergen. »Ist auch nicht so wichtig, Kind. Ich muss noch etwas erledigen. Grüß deine Eltern.«
Heidelinde Gressmer nahm entschlossen ihre Gießkanne und verschwand, ohne sich noch einmal umzusehen. Veronika Brauer schaute ihr überrascht nach.
»Ich weiß es! Er hat es getan, jawohl! Dieser verrückte Holzschnitzer!«
Heidelinde Gressmer schrie. Sie hatte rote Flecken im Gesicht und Tränen in den Augen. Ihre Bluse war knitterig und ihr Haar ungekämmt. Gernot Gressmer stand am Fenster und sah hinaus. Die Hände hatte er auf dem Rücken verschränkt. Er wartete, bis sie sich beruhigt hatte. Die Ausbrüche seiner Frau kannte er zur Genüge. Seit einigen Tagen ging das so und es wurde immer schlimmer. Jetzt rannte Heidelinde auf ihn zu, fasste ihn am Arm und riss ihn zu sich herum. Ihr Gesicht war verzerrt.
»Hörst du mir überhaupt zu? Ich rede mit dir!«, keifte sie.
Er schüttelte sie ab wie ein lästiges Insekt.
»Natürlich, du schreist ja laut genug«, tadelte er müde und sank in einen Sessel.
Sie waren im Wohnzimmer. Zeitungen lagen überall herum. Der Staub auf dem dunklen Mahagoni des Schrankes war lange nicht aufgewischt worden. Heidelinde ließ den Haushalt seit Wochen verkommen. Gernot hasste Unordnung.
»Warum gehst du nicht zu einer Selbsthilfegruppe oder zu einem Arzt? Diese Schuldzuweisungen bringen doch niemand etwas. Du machst dich kaputt mit deiner ewigen Suche nach einem Schuldigen.« ›Und mich auch‹, dachte er, sprach es aber nicht aus.
Heidelinde hatte sich ebenfalls gesetzt. Sie schluchzte jetzt wie ein Kind. Niemand verstand sie. Ihr Mann schon gar nicht. Sie war zu dem Bauernhof gefahren, von dem Veronika Brauer gesprochen hatte. In der Werkstatt traf sie einen jungen Mann mit Vollbart und langen Haaren. Er machte einen verwirrten Eindruck und gab auf ihre Fragen nur unvollständige Antworten. Sie war sicher, dass der Mann etwas mit dem Tod ihrer Tochter zu tun hatte. Als sie ihn ausfragen wollte, kam eine alte Frau dazu und erklärte ihr barsch, dass ihr Sohn krank sei und sie solle ihn in Ruhe lassen. Ergebnislos war sie nach Hause gefahren. Sie hatte auf die Unterstützung ihres Mannes gehofft. Da er ihre Besorgnis als Hirngespinst abtat, würde sie allein zu Polizei gehen müssen.
Gernot Gressmer nahm seine Jacke