Es fühlt sich an wie ein kleines Wunder. Ich fühle mich 20 Jahre jünger. Also rein körperlich. Ich bin 65 und danach sehe ich auch aus – finde ich jedenfalls. Na ja, mit viel Wohlwollen vielleicht auch wie 63. Ganz sicher aber nicht wie 50 oder noch jünger. Nicht wie Udo Jürgens, der mit 75 aussah wie 55 und in die Tasten gehauen hat, als wäre er keine 45. Auch nicht wie der FC-Bayern-Doc Müller-Wohlfahrt, bei dem man die 70 plus nur aus allernächster Nähe ahnen kann und auch nur, wenn die aufdringlichen TV-Kameras direkt auf sein Gesicht zoomen.
Mir sieht man an, dass ich zeit meines Lebens viel, sehr viel in der Sonne war, und ich habe jede Menge Lachfalten um die Augen. Und klar, vor etwa 15 Jahren fing das an mit den typischen Zipperlein des Alters. Wie heißt der hübsche Spruch? „Wenn du mit 50 morgens aufwachst und es tut dir nichts weh, dann bist du tot.“ Dann also müsste ich jetzt tot sein, denn im Gegensatz zu früher – da hatte ich morgens schon auch mal „Rücken“ – wache ich auf, als wäre ich wieder 30, fit und pumperlg’sund.
Noch während ich an diesem Text sitze, hör-lese ich Detlef Hacke im SPIEGEL jammern: „Ich bin jetzt 54, dies zur Orientierung. Morgens federe ich nicht mehr aus dem Bett, sondern rappele mich auf. Die ersten Schritte treppab sind steif, und bis meine Bewegungen halbwegs geschmeidig werden, brauche ich inzwischen fast so lange wie früher nach einer durchzechten Nacht. Vielleicht bin ich deshalb morgens am liebsten der Erste der Familie. So sieht niemand, wer da im Morgengrauen zur Kaffeemaschine stakst. Tagsüber wird es besser, aber so richtig gut auch nicht.“ (t1p.de/pcy0)1 Neuerdings steht da übrigens „Mitte 50“ statt „54“ – und ich muss grinsen, weil auch er das schöne Wort „federn“ verwendet. Mit dem Unterschied, dass ich, der zehn Jahre Ältere, tatsächlich schon morgens „federe“, Hacke, der viel Jüngere, offenbar den ganzen Tag nicht mehr. Und wenn ich daran denke, wie ich vor zehn Jahren nachts rausmusste (auch das muss ich nicht mehr), sehe ich mich ganz vorsichtig die nachtsteifen Füße in kleinsten Trippelschritten einen vor den anderen setzen, wie man das von alten Leuten kennt. Gruselig. Genauso gruselig wie das „staksen“, das Hacke oben für sich beschreibt.
Und jetzt? Meine früheren Kolleginnen von der eBuch eG (t1p.de/t7g5)2 und genialokal.de (t1p.de/3aqe)3, die ich ab und an besuche, sitzen im fünften Stock. Und die Stockwerke sind hoch, Industriebau halt. 5 x 10 + 5 x 9 = 95 Treppenstufen bis zu ihnen rauf. Wenn ich den Aufzug früher aus Gesundheitsgründen mal Aufzug habe sein lassen, dann wurde es ab dem vierten Stock schon etwas mühsam, und auf der letzten Treppe signalisierten meine Oberschenkel und Waden deutlich ihre Sauerstoffnot – oder was man eben dafür hält. Nachdem ich begonnen hatte, diesen Text zu schreiben, wollte ich das unbedingt noch einmal ausprobieren. Der Unterschied war drastisch. Klar, ganz oben musste ich schon einmal gut Luft holen, aber ich war durchgelaufen, und das ganz ohne die kleinen Schmerzstiche in den Oberschenkeln. Und ich bin definitiv nicht im Training: Mein kluges Pedometer (Schrittzähler), eine der besten Apps auf meinem Android-Smartphone (t1p.de/4hv6)1, sagt mir, dass ich im ersten halben Jahr 2018 im Schnitt noch jeden Tag 6000 Schritte, also knappe 3,7 Kilometer pro Tag zurückgelegt habe. Neben vielen 2000er-Durchschnittstagen waren da halt auch ein paar 17 000–20 000er-Wanderungen dabei. Seit dem Sommer waren es aber leider nur noch durchschnittlich 4000 Schritte (2,5 km/Tag), und das mit stark fallender Tendenz, denn im November waren es nur noch 3000 (1,8 km/Tag), die praktisch jeder Mensch täglich auf dem Zähler hat. Weit entfernt von den 10 000 Schritten oder circa sechs Kilometern pro Tag, die allgemein empfohlen werden. Training kann also nicht die Erklärung sein.
Ich schildere das so genau, damit Sie verstehen können, wie verwundert ich selbst bin. Natürlich tue ich etwas für meine Gesundheit, aber ich muss mich dazu nicht im Fitnessstudio kasteien. Oder besser gesagt, ich will es nicht, denn ich bin ein fauler Hund. War ich schon immer. Oder sagen wir mal bequem. Meine Bequemlichkeit habe ich immer versucht mit Einfallsreichtum auszugleichen. Wenn der Krieg der Vater aller todbringenden Erfindungen ist, dann ist die Bequemlichkeit die Mutter aller nützlichen Ideen, die den Komfort im Alltag steigern.
Es ist also definitiv nicht „Spocht“, wie Olli Dittrich sagen würde, denn Sport gegen mich selbst, wie etwa Joggen oder Gewichte stemmen, ist für mich eine echte Qual. Auch kein radikaler Alkoholverzicht, auch nicht kalt duschen, keine Gymnastik, keine Meditation, kein Yoga und ganz sicher keine hochgesunde Rohkost-Vollkorn-Ernährung. Ich gehöre eher zu den Omnivoren, sprich: Ich esse alles und Fleisch recht regelmäßig. Ja, seit einigen Jahren versuche ich Zucker zu vermeiden und andere schnelle Kohlenhydrate so weit wie möglich zu reduzieren. Ich bin aber nicht verbissen, ich versuche nur mein Gewicht zu halten, was ohne Sport deutlich schwieriger ist, weil man im Alter leider viel weniger Kalorien braucht. Natürlich esse ich regelmäßig Salat und Gemüse, aber auch Steaks, Schinken, Salami-pizza aus dem Tiefkühlregal und anderes, was zwar gut schmeckt, aber nicht unbedingt als supergesund bezeichnet werden kann.
Und trotzdem scheinen seit über zwei Jahren weder Husten noch Erkältungen eine Chance zu haben. Ich habe Leuten die Hand gegeben, die schwer geschnieft haben, die total verrotzt und fiebrig waren, ja sie sogar umarmt mit Busserl links und rechts. Und ich habe dann auch pflichtschuldigst ein bis zwei Tage später eine beißende Nase gehabt und auch ein paarmal niesen müssen – aber das ging nach gut einem Tag mit ein paar Nasentropfen wieder vorbei. Früher wäre das nicht unter einer Woche abgegangen, denn der Erstinfektion mit den Rhinoviren (da tropft die Nase, aber nur, als sei es klares Wasser, dafür brummt der Schädel) wäre nach drei Tagen die übliche bakterielle Infektion gefolgt, die wir als eigentlichen Schnupfen mit den entsprechenden unschönen Begleiterscheinungen im Taschentuch wahrnehmen. Und mit ein bisschen Pech wäre das Ganze noch in die Nebenhöhlen gezogen, meine echte Schwachstelle.
Ich bin auch heftig angehustet worden von Menschen, die sich mit diesem Husten zehn Tage lang gequält haben, habe dann selbst das Kratzen im Hals bekommen und war es nach 36 Stunden wieder los – mit ein paar Lutschpastillen. Oder praktisch sofort mit dem gestrengen Wasserdost – aber davon später.
Mein kluger Hausarzt hat übrigens in seiner ganzen Praxis striktes Handschlagverbot. Natürlich nicht aus religiösen, sondern aus sehr vernünftigen medizinischen Gründen. Das hatte er schon vor der Corona-Pandemie, und zwar nicht nur im Winter, sondern ganzjährig. Früher, mit meinen zwei bis fünf Erkältungen im Jahr, konnte ich das nur unterstützen. Damals war es mir eher egal, denn etwas war anders im Jahr 2018, sehr anders. So anders, dass es mir auffiel, obwohl doch die Abwesenheit von etwas viel schwerer zu bemerken ist als ein eintretendes Ereignis. Wenn ein Schnupfen ausfällt, wie will ich beweisen, dass er wirklich ausgefallen ist? Dass ich ihn unter anderen Umständen bekommen hätte? Beim Kater ist das schon leichter, den kann man provozieren, und ich tue das jeden Dienstag, also vier- bis fünfmal im Monat: „Tschüss Party, hallo Schmerz: Auf übermäßigen Alkoholkonsum folgt Leid. Das ist bekannt. Doch warum der Körper so reagiert, ist unklar. […] Die Mehrheit klagt über Kopfschmerzen, Müdigkeit, Stimmungsschwankungen und Übelkeit, manche müssen sich sogar übergeben“, schreibt Janosch Deeg in einem langen Artikel über den Alkoholkater (t1p.de/9g43)1. Bei mir: nichts dergleichen. Wie sich das Leben ohne Kater anfühlt, formuliert eine trockene Alkoholikerin in der ZEIT sehr eindrücklich: „Ich wache jeden Morgen auf und habe einen klaren Kopf. Seit dem 13. September 2017 hatte ich keinen Kater mehr. Ich wache auf und bin manchmal immer noch erstaunt darüber, dass nichts gegen meine Schädeldecke hämmert, dass ich, sobald ich die Augen öffne, sofort einen klaren Gedanken fassen kann und das ist schon einmal ein Jackpot.“ (t1p.de/xasr)2