Frühlingstochter. Isolde Kakoschky. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Isolde Kakoschky
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783967525472
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vermisste sie etwas. Früher, als die Zeitung noch zehn Pfenning kostete, da hatte sie neben der Ausgabe aus Halle auch die ihrer Heimatstadt abonniert. Jetzt kam ihr die moderne Technik entgegen. So konnte sie die elektronische Ausgabe als E-paper lesen und war immer über die Neuigkeiten informiert.

      Im Nachhinein ärgerte sich Manuela, nicht zum Jahrgangstreffen gefahren zu sein. Es wusste ja sowieso keiner etwas von ihrer Vergangenheit und sie hätte nichts erzählen müssen, was sie nicht wollte. Aber für Reue war es jetzt zu spät.

      Ein paar Tage nach dem Treffen hatte sie den Artikel gelesen und ausgedruckt. Stundenlang hatte sie das Foto angesehen, auf dem ihre Mitschüler fröhlich in die Kamera blickten. Und sie glaubte sogar, die eine oder andere ihrer Mitschülerinnen zu erkennen. Seitdem fragte sie sich immer wieder, ob sie nicht doch einmal wieder nach Hettstedt fahren sollte, durch die vertrauten Straßen laufen und vielleicht sogar Bekannte treffen. In dem Zeitungsartikel stand geschrieben, dass noch viele in der Nähe wohnen würden.

      Auf dem Tisch machte sich ihr Smartphone bemerkbar. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie das Gespräch annahm.

      »Hallo Kai«, begrüßte sie ihren Sohn. »Wie geht es dir, mein Junge? Und was macht mein Sternchen?«

      »Gut geht es uns«, verkündete Kai. »Aber unsere Stella hat wieder keine Lust, ins Bett zu gehen, bevor sie noch nicht der Oma ›Gute Nacht‹ gesagt hat.«

      Manuela schmunzelte. So kannte sie ihre Enkelin. Immer musste sie ihren Kopf durchsetzen. Und ihr Sohn verwöhnte seine kleine Tochter nach Strich und Faden. Schon tönte das glockenhelle Stimmchen von Stella aus

      dem Handy. »Oma, ich habe neue Sandalen an, die sind pink und mit Glitzer! Kann ich die im Bett anlassen?« Manuela lachte. »Nein, mein Schatz, im Bett ziehst du sie besser aus, aber am Sonntag, wenn wir in den Zoo gehen, dann kannst du sie mir zeigen.«

      »Ist gut«, gab sich Stella einsichtig. Ein schmatzendes Geräusch drang durch den Lausprecher. »Küsschen, Omi! Gute Nacht!«

      »Gute Nacht, mein Liebling! Schlaf gut!«

      Nachdem sich Manuela von ihrem Sohn verabschiedet und einen Gruß an Nina, seine Lebensgefährtin, hinterlassen hatte, legte sie das Smartphone zur Seite. Eine warme Welle durchflutete ihren Körper. Oh, wie sehr sie ihren Kai liebte! Als er geboren wurde und die Hebamme ihr sagte, dass es ein Junge sei, da hatte sie ihn sofort annehmen können. Es war gut, dass es ein Junge geworden war. Sie waren immer ein Herz und eine Seele gewesen. Ihr Mann Andreas hatte so oft außen vor gestanden, weil er dieser engen Beziehung nichts entgegensetzen konnte. Vielleicht war es auch ein Grund gewesen, warum ihre Ehe schließlich scheiterte. Sie hatten sich nicht betrogen, sich nicht Schimpf und Schande an den Kopf geworfen, aber sie hatten auch nichts mehr gemeinsam. Möglicherweise wäre es besser gewesen, wenn Manuela ihrem Mann alles anvertraut hätte, vielleicht hätte er sie dann verstehen können und ihre übertriebene Liebe zu ihrem Sohn nicht dermaßen zum Streitthema gemacht. Doch immer hatte ihr der Mut ge-

      fehlt. So kam zum Schluss die Trennung allen nur folgerichtig vor. Gekämpft hatte sie um ihre Ehe nur so lange, um ihrem Sohn das Elternhaus zu erhalten. Kai hatte damals kurz vor dem Schulabschluss gestanden. Er studierte nach dem Abitur in Leipzig und blieb auch nach dem Abschluss dort, um nicht zu weit von seiner Mutter weg zu müssen. Nicht, weil er wirklich ein Mamasöhnchen gewesen wäre, eher aus Sorge um Manuela. Aber die hatte ihren Beruf und ihr Leben im Griff. Selbst ihr Sohn wusste nicht, welches Geheimnis sie seit Jahrzehnten mit sich herum trug.

      Als ihr Kai kurz nach dem Studienabschluss offenbarte, dass er Vater werden würde, da hatte sie eigentlich mit einer Hochzeit gerechnet. Die jungen Leute dachten allerdings darüber ganz anders als sie. Inzwischen war Stella schon fast fünf, und Heiraten war immer noch kein Thema. Zumindest lebte die kleine Familie zusammen in einer geräumigen Altbauwohnung im Süden von Leipzig, die in den Jahren nach der Wende aufwendig saniert worden war.

      Früher, da hatte das ganz anders ausgesehen. Sie hatten heiraten müssen, um eine gemeinsame Wohnung zu erhalten, um überhaupt eine Wohnung zu bekommen. Glück hatten sie gehabt, hier in der Neustadt im Westen von Halle eine so schöne Neubauwohnung zu ergattern. Da war es sehr hilfreich gewesen, dass Manuela und ihr Mann in dem großen Chemiebetrieb vor den Toren der Stadt gearbeitet hatten. Sie hatten schon

      ein Kinderzimmer besessen, noch ehe Kai zur Welt kam. Fast undenkbar damals. Ja, damals war sie mit ihrem Leben zur Ruhe gekommen. Sie war eine liebevolle Mutter, arbeitete aber auch gerne in ihrem Beruf im Chemiewerk. Ihr Junge war so brav, weinte nie, wenn sie ihn schon mit einem halben Jahr in die Krippe brachte. Auch das hatten Kai und Nina anders gesehen. Erst nach zwei Jahren war Stella zu einer Tagesmutter gekommen, und mit drei dann in den Kindergarten. Dass ihr erstes Enkelkind ein Mädchen werden würde, hatte sich schon in der Schwangerschaft herausgestellt. Das hatte ihr Zeit gegeben, sich darauf einzustellen. Ein Mädchen, dieser Gedanke riss alte Wunden wieder auf. Und wenn sie jetzt ihren Sohn erlebte, wie er mit seiner Tochter umging, mit ihr spielte, mit ihr lachte, sie verwöhnte, dann tat die Erinnerung an ihre eigene Kindheit und an den Mann, der ihr Vater war, doppelt weh. Manuela legte den Zeitungsartikel zurück in den Schrank. In der Küche bereitete sie sich ein paar Scheiben Brot zum Abendessen zu und landete mit dem Teller wieder vor dem Fernseher. Seit sie allein lebte, musste sie keine Rücksicht mehr nehmen. Ihr reichten einfache Gerichte, die sich schnell zubereiten ließen. Den leeren Teller stellte sie in die Spülmaschine, ehe sie sich bettfertig machte. Sie las noch ein paar Seiten und im Einschlafen geisterten noch einmal ihre Schulkameraden durch den Kopf. Vielleicht würde sie doch einmal über ihren Schatten springen?

      

       2. Kapitel

      

      Am Freitagnachmittag erledigte Manuela nach der Arbeit ein paar Einkäufe, ehe sie sich auf den Weg in die »Heide«, das hallesche Erholungsgebiet, zur Sauna begab. Im Winter besuchte sie den finnischen Schwitztempel regelmäßig, doch auch im Sommer zog es sie ab und zu in diese kleine Wellness-Oase, wenn das Wetter ein Baden im Freien nicht zuließ oder wenn sie erschöpft war, oder sie sich einfach nur ausruhen oder nachdenken wollte. So wie heute.

      Obwohl es bisher eigentlich noch recht kühl für die Jahreszeit war, hatten nicht sehr viele Menschen das Bedürfnis nach Wärme. Jedenfalls war es eher leer. Sie hatte es sich mit zwei anderen Frauen bei 80 Grad gemütlich gemacht, die sich leise unterhielten. Das war zwar nicht gerade üblich, doch es störte sie nicht. Sie hing ihren eigenen Gedanken nach und musterte ihren nackten Körper. In den letzten Jahren, seit Beginn der Wechseljahre bildete sich ein kleines Bäuchlein und ihr Busen hatte nach der Stillzeit mit Kai deutlich an Straffheit verloren. Was sollte sie sich aber beklagen mit Mitte Fünfzig? Immerhin zeigten sich noch keine grauen Haare. Oder sie fielen nicht auf in ihrer undefinierbaren Farbe, die sie immer »Straßenköter-blond« nannte. Als junges Mädchen war sie nicht unansehnlich gewesen. Sie seufzte leise auf. Da waren sie wieder, diese erdrückenden Bilder der Erinnerung.

      Am nächsten Morgen lief Manuela unentschlossen durch die Wohnung. Irgendwann musste sie es wagen! Schließlich zog sie sich eine leichte Jacke über Rock und Bluse und startete das Auto. Obwohl die meisten Frauen, auch ihres Alters, eher Jeans bevorzugten, trug Manuela meistens Röcke. Es war nur eine der Folgen der Erziehung in ihrer Kindheit und Jugend. Der Vater hatte nie zugelassen, dass seine Töchter Hosen trugen. Inzwischen konnte sie längst selbst entscheiden, doch diese Gewohnheit war geblieben. Zügig fuhr sie los. Gegrübelt hatte sie wahrhaftig lange genug. Jetzt wollte sie Taten folgen lassen. Am Rand der Dölauer Heide hielt sie sich Richtung Nordwesten und folgte der Straße bis zum Thälmannschacht. Sein Spitzkegel war die Bekannteste der Mansfelder Halden und weithin zu sehen. Hier bog sie nach rechts ab und erreichte schon bald die kleine Stadt im Tal der Wipper. Einstmals war es eine Kreisstadt gewesen, doch schon kurz nach der Wende hatte sie diesen Status verloren. Inzwischen mauserte sich das Städtchen aber zu einem hübschen, liebenswerten Ort. Obwohl sie wirklich nicht oft hier gewesen war, hatte sie alle Entwicklungen mitverfolgt. Vor mehr als zehn Jahren, noch bevor die Umgehungsstraße gebaut wurde, war sie mit ihrem Mann gelegentlich hier durchgefahren. Wenn man von Aschersleben in Richtung Eisleben wollte, ergab es


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