Mit diesen Worten öffnete der Mann die Käfigtür. Benno war mit blutenden Handgelenken wieder in die Ecke geflüchtet. Der Durst war groß. Er hatte vorhin alles wieder ausgebrochen. Aber er traute sich nicht heraus. Nicht in die Nähe des Fremden.
Der Mann schien seine Gedanken zu erraten.
„Keine Angst. Ich gehe solange. Du kannst sowieso nicht flüchten. Also versuch es erst gar nicht. Es hört dich auch niemand. Hier ist Verbandszeug für deine Arme.“
Benno folgte dem Mann mit den Augen, der die geflieste Treppe hochging, die Tür hinter sich zuzog und absperrte. Er wartete noch eine Weile. Dann kroch er aus dem Käfig. Er streckte sich. Endlich wieder aufrecht stehen. Aber das tat weh. Es war ungewohnt und zog in seiner Wunde. Durst, so großer Durst. Mühsam schleppte er sich zum Tisch und trank direkt aus der Flasche.
Als der Fremde zurückkam, war Benno bereits willenlos. Er grinste und starrte ihn mit wirren Augen an. Ohne Widerstand ließ er sich das Gespensterkostüm überstreifen, die Handgelenke verbinden und mit einer Kette umwickeln. Jetzt waren von Benno nur noch Hände, Füße und Augen zu erkennen.
Er selbst streifte sich die Totenkopfmaske über und zog die Kapuze tief ins Gesicht.
An der Kette zog er Benno mit sich zum Auto, das er direkt an der Kellertür geparkt hatte. Er würde den dummen Politiker an einen Ort der Weisheit und der Kultur bringen. Schon vor Wochen hatte er sichergestellt, dass er Zugang zur Eulenburg haben würde. Nachts war dort wenig los. Gegen halb zwei näherten sich die beiden dem alten Gebäude, ohne dass sie jemand gesehen hatte. Der Fremde hatte Benno eine genau berechnete Anzahl an K.-o.-Tropfen verabreicht. Daher ließ die Wirkung auch erst nach, als Benno längst kopfüber und nackt am Balken hing. Ihm war schlecht und er konnte sich nicht erinnern, wie er hierhergekommen war. Er fror.
„Na Benno, wie fühlst du dich jetzt? Hast es bald geschafft!“
Nach und nach kehrten die Erinnerungen der letzten Tage wieder und mit ihnen das Grausen.
Das Letzte, was er hörte, war nur für seine Ohren bestimmt. Der Fremde flüsterte ihm etwas Unglaubliches zu und durchstach gleichzeitig in seinem Hals die Hauptschlagader.
Gefüllte Paprika
Hetzer war mit Gaga und dem Holz ins Haus gegangen. An einem diesigen Tag wie heute dauerte es immer, bis der Kamin richtig zog. Am besten machte er ein Höllenfeuer mit Zeitung und kleinem Geäst, ein paar Stückchen Baumrinde. Damit die kalte Luft dem Schornstein entwich. Dann immer größere Scheite und nach und nach tanzte ein freundliches Feuer hinter der Scheibe. Für Wolf Hetzer war ein Kaminofenfeuer der Inbegriff aller Gemütlichkeit. Am Feuer war oder wurde alles gut. Die Wärme war eine andere, das Licht der Flammen strahlte weicher. Im Herd schmurgelte schon eine gefüllte Paprika – lecker mit Käse überbacken. Ihr Duft kroch durchs Haus bis zum Biedermeiersofa in Wolfs Nase und weckte ihn aus einem Kurzschlaf, gerade, als er im Traum einen Schweinebraten anschneiden wollte.
Der Hunger war stärker gewesen als der Schlaf. Er setzte sich auf. Vorsichtig, um die Kater nicht zu wecken, die es sich an seiner Seite bequem gemacht hatten. Aus der Küche piepte der Ofen. Endlich! Sein Magen knurrte gewaltig.
Gaga folgte ihm. Sie wusste, dass sie nichts vom Tisch bekam, aber sie wollte auch nichts verpassen. Hetzer nahm die Auflaufform aus dem Ofen. Hmm. Diese Rosésoße, köstlich. Das letzte Glas aus der Flasche hatte er aufgehoben. Er stellte es neben seinen Teller auf den Esstisch im Wohnzimmer und lehnte sich zurück. Wenn sie noch da wäre, hätte er eine zweite Flasche aufgemacht. Er schob den Gedanken beiseite, nahm einen Schluck und schnitt die Paprika an. Sie zerging auf der Zunge. Er hatte sie mit Reis und Zucchini gefüllt. Kochen war eine seiner Leidenschaften. Dafür nahm er sich Zeit. Sie hatte immer so gerne bei ihm gegessen. Auch wenn sie bei manchen Gerichten befürchtet hatte, er wolle sie vergiften. Mit Fenchel zum Beispiel und Chicorée.
Immer wieder diese Gedanken. Er wurde sie nicht los. Kam in einen Strudel, der ihn immer weiter nach innen zog, wenn er es nicht schaffte, sich abzulenken. Er wollte sie auch nicht loswerden, dachte er und hatte ein schlechtes Gewissen, weil er überhaupt darüber nachgedacht hatte. Sie gehörte zu ihm. Immer noch. Auch wenn sie nicht mehr da war.
Als Gaga bellte, riss sie ihn aus der Gedankenspirale und holte ihn ins Jetzt zurück. Hetzer hätte das kurze Bellen nicht weiter wichtig genommen, wenn nicht auch Emil im Stall Theater gemacht hätte. Er fauchte noch, als Hetzer in Richtung Tür ging. Das war seltsam. Normalerweise meldete er nicht, wenn er nachts im Stroh schlief. Es sei denn, es wäre jemand direkt aufs Grundstück gekommen oder hätte sich am Stall zu schaffen gemacht.
Hetzer gab Gaga das Kommando, ihm direkt bei Fuß zu folgen, und verließ durch den Hauswirtschaftsraum den Anbau in Richtung Hof. Sofort schalteten die Bewegungsmelder alle Lampen rund um das Haus an. Gaga spitzte die Ohren. Emil meckerte nur noch ein bisschen unwirsch vor sich hin und freute sich, als Hetzer zu so ungewohnter Zeit in seinen Stall kam.
„Ist doch gut, Emil“, beruhigte er den Ganter. „Hast du geträumt oder war hier jemand?“
Er streute dem Tier ein paar Getreidekörner hin und schloss den Stall wieder ab. Er sah, wie seine Hündin entlang des Zauns witterte, zwischendurch stehenblieb und mit gespitzten Ohren horchte.
Hier war jetzt niemand mehr, aber er hatte das Gefühl, dass dort jemand gewesen war. Vielleicht sogar näher, als er wollte.
Die Paprika war inzwischen kalt geworden. Er stellte sie noch einmal kurz in die Mikrowelle und legte Holz nach. Gerade, als er sich wieder zu Tisch gesetzt hatte, klingelte es.
„Das darf doch nicht wahr sein!“, sagte er zu Gaga, die ihn nicht hörte, weil sie bellend zur Tür gelaufen war.
„N’Abend Wolf, störe ich?“
Peter stand fragend in der Tür und sah Gaga skeptisch an.
„Nee, komm rein, aber lass mich eben essen. Ich habe die Paprika schon zum zweiten Mal warm gemacht. Willst du einen Schluck Wein? Gaga, ab in deinen Korb.“
Widerwillig gehorchte sie und ließ sich mit einem Brummen nieder, ohne Peter aus den Augen zu lassen.
„Beißt die auch nicht?“
„Kommt drauf an, ob du mich ärgerst“, lachte Hetzer, „oder aus ihrem Napf frisst. Sie ist so futterneidisch wie du. Möchtest du was von meiner Paprika?“
„Nein danke, das ist mir hier zu gefährlich, außerdem hatte ich einen leckeren Döner in Minden. Da gibt es die besten.“
„Und dafür fährst du extra nach Minden?“ Hetzer schüttelte den Kopf. „Der Sprit ist echt noch nicht teuer genug für solche wie dich.“
„Vielen Dank für die Moralpredigt, Herr Umweltapostel. Hast du schon gehört, wie diese vielen Kaminofenemissionen die Luft schädigen? Also, was soll’s. Wir sind alle Störfaktoren fürs Ökosystem. Ach, und ich hatte noch vergessen zu erwähnen, dass ich meine Mutter im Grillepark besucht hatte. Es lag quasi auf dem Weg.“
Hetzer kam sich doof vor. Manchmal sollte er sich lieber auf die Lippen beißen. Aber es gab genug Weggucker und Nichtssager. Dann lieber mal ein peinlicher Moment.
„Sorry, das konnte ich ja nicht wissen, dass deine Mutter in Minden wohnt.“
„Wie solltest du auch?“, grinste Peter. „Dafür hab ich es dir jetzt mal schön zurückgegeben, denn für dein verschwenderisches Heizen mit Holz hast du keine Ausrede – den Genuss mal ausgenommen. Was hast du denn für einen Wein?“
„Das hier ist ein Zinfandel Rosé. Ich habe noch eine Flasche im Kühlschrank. Setz dich schon mal, aber Finger weg von meiner Paprika. Gaga sieht alles!“
Peter nahm den größtmöglichen Abstand zum Hundekorb ein und setzte sich.
Dieses Miststück verfolgte ihn immer noch mit halboffenen Augen.
Jederzeit