Die Obduktion der Ratte
Es wurde Abend, bis Mica ihn auf seinem Handy zurückrief.
„So, du von Verfolgung geplagter Wolf, jetzt kann ich Licht in deine düsteren Gedanken bringen“, sagte sie ernst. „Im Halsbereich der Ratte fanden sich mehrere kleine Einstiche.“
„Heißt das, sie ist ermordet worden?“, rutschte es ihm heraus.
„Hängen wir es nicht so hoch auf, Hetzer. Sie ist auf jeden Fall getötet worden und nicht eines natürlichen Todes gestorben. Wobei diese Formulierung auch nicht genau zutrifft.“
„Ich verstehe nur Bahnhof. Kannst du dich nicht vielleicht ein bisschen deutlicher ausdrücken. Es ist echt wichtig für die Ermittlung.“
„Ist ja schon gut. Also, in den Wundkanälen habe ich Speichel von Feliden gefunden. Du hast wohl eine Verehrerin oder einen Verehrer.“ Wolf konnte im Geiste Micas Grinsen sehen und grummelte innerlich. Sie hätte auch Katzenspucke sagen können. Aber das war typisch Mica, die jetzt beim Sprechen das Lachen kaum unterdrücken konnte: „Eier hatte sie übrigens keine, weil sie ein Weibchen war. Und ersoffen ist sie auch nicht. Vielleicht, weil sie übers Wasser wandeln konnte ...“
Hetzer schäumte, aber er wollte ihr den Triumph nicht gönnen.
Darum ließ er sich nichts anmerken und sagte gelangweilt: „Gut, dann ist sie von einer Katze erlegt worden. Vielen Dank.“
Danach legte er einfach auf, ohne ihre Reaktion abzuwarten. Mica starrte den Hörer an. Hatte er einfach aufgelegt? Wenn das kein Verbindungsfehler war, war er sauer. Schade. Sie hatte einen Spaß machen wollen und der war mächtig nach hinten losgegangen.
Wolf Hetzer kam sich vor wie ein Riesenrindviech. Er konnte Mica den Schabernack nicht einmal verübeln. Es war wirklich dämlich gewesen zu glauben, dass ihm jemand eine ertränkte, kastrierte Ratte vor die Tür gelegt hatte, nur weil ein Pfarrer aus Hameln so gestorben war. Völlig blöd. Er hatte sich selbst zu wichtig genommen. Sie hatten noch nicht einmal den Ansatz einer Spur. Wer sollte ihn da also im Visier haben? Er hoffte, dass Mica diese Geschichte einfach auf sich beruhen ließe und nicht weiter in der Wunde bohrte.
Wütend über sich selbst beschloss er, den Tag wenigstens gut ausklingen zu lassen. Die Ermittlungen hatten sie nicht weitergebracht. Weder in Hameln noch in Rinteln. Sie hatten so wenig in der Hand. Kaum Spuren am Tatort von Pfarrer Fraas. Keine im Fall Benno Kuhlmann, der immer noch verschwunden war, und von dem sie nicht wussten, ob er überhaupt noch lebte. Bei diesen trüben Gedanken beschloss er, den Kaminofen anzuzünden und sich ein schönes Essen zu kochen.
Er holte gerade Holz aus dem Schuppen im Hof, als Moni mit Gaga um die Ecke bog. Bei ihr machte selbst Emil kein Geschrei.
„Hallo, ihr zwei!“, sagte er und griff den schweren Korb. „Wollt ihr mit reinkommen?“
„Ich nicht, ich muss gleich zum Yoga!“, sagte Moni und strich sich eine nasse Strähne aus der Stirn. Es hatte zu regnen begonnen. „Und danach will ich noch in die Sauna!“
„Oh, wie schön!“, seufzte Hetzer und dachte daran, dass er unbedingt noch eine Sauna an sein Hexenhäuschen anbauen wollte. In diesem Jahr würde das nichts mehr werden.
Bennos Ende
Als Benno wieder erwachte, war es nicht mehr dunkel im Raum. Er sah, dass er sich in einem von mehreren Käfigen befand, die in einer Art Souterrain oder Keller standen. In der Mitte stand ein Edelstahluntersuchungs- oder, ihn schauderte, Seziertisch mit Schnallen aus Leder. Wo war er? Und warum war er hier? Da fiel ihm sein Zustand wieder ein. Und er begann erneut zu weinen. Er konnte jetzt auch sehen, wie die gelbe Flüssigkeit, die sein Urin sein musste, den Schlauch entlangfloss und irgendwohin geleitet wurde. Noch einmal fühlte er in seiner Hose nach, aber es war alles weg, was ihn zum Mann gemacht hatte. Er war ein Neutrum. Ein Nichts. Konnte er überhaupt noch geil werden? Und wenn ja, wie sollte er sich abreagieren. Da war nichts mehr, woraus er spritzen konnte. Da war auch nichts mehr, womit er spritzen konnte, fiel ihm ein. Er hatte keine Eier mehr. Wieder liefen ihm Tränen übers Gesicht. Wo war der Mensch, der ihm das angetan hatte? Und was hatte er noch mit ihm vor? Er wollte nach Hause. Aber was sollte er seiner Frau erzählen? Wie lange ließ sich dieser Zustand geheim halten?
Plötzlich waren Schritte auf der Treppe zu hören. Sie kamen näher. Die Tür wurde aufgeschlossen und eine dunkle Gestalt näherte sich ihm.
Benno hatte Angst. Er kauerte sich in seine Ecke zurück und zitterte.
„Hast du schon bemerkt, dass du kein Mann mehr bist?“
Benno antwortete nicht. Er brachte keinen Ton aus seiner Kehle, obwohl er es versuchte.
„Du musst nichts sagen. Ich weiß, du kannst nicht sprechen.“
Benno erstarrte. Wieso konnte er nicht sprechen. Er versuchte es mit einem „Aaaa“ und hörte sich nicht. Er versuchte es lauter und versuchte zu schreien. Um Hilfe oder Gnade. Um etwas, das ihn erlöste.
„Streng dich nicht so an!“, sagte das Flüstern neben ihm beruhigend. „Du kannst nicht sprechen, weil ich dir deine Stimme genommen habe. Du hast eh nur Scheiße erzählt. Viel Blabla und lauter Lügen. Versprechungen, die du nie gehalten hast. Meinungen, die keiner hören wollte. Ansichten, die Menschen verletzen, so wie mich. Aber du wirst nie wieder etwas sagen.“
Mit tränenüberströmtem Gesicht begriff Benno Kuhlmann, dass der Mann sich an ihm rächen wollte. Er hatte doch nie wirklich jemandem etwas getan. Vielleicht hatte er seine Vorteile als stadtbekannter Politiker ausgenutzt. Ein bisschen geschachert und betrogen, aber das machte doch jeder.
„Wie fühlst du dich eigentlich, so ohne Gemächt? Die Wunden sind gut verheilt. Du könntest damit alt werden. Die Lust würde allmählich nachlassen, falls du aufgrund deiner Situation überhaupt welche hättest.“
Benno wurde kalt. Wieso der Konjunktiv? Wieso würde, hätte und könnte? Der Mann wollte ihn nicht am Leben lassen. Angst war auf einmal überall in ihm. Er spürte den Hass jetzt deutlich durch das Käfiggitter. Wie eine böse Aura, die den Raum überschwemmte.
„Glaub mir, ich weiß genau, wie du dich fühlst. Man gehört nicht mehr dazu. Weil Leute wie du glauben, Dinge besser zu wissen, von denen sie nicht das Geringste verstehen. Und man will nie entdeckt werden. Davor brauchst du dich nicht zu fürchten, denn jeder wird es wissen. Sie werden es sehen, wenn sie dich finden.“
Benno drängte sich noch tiefer in die Käfigecke.
„Keine Angst, Kuhlmann. Du wirst nicht lange leiden. Ich werde dich als das umbringen, was du zu Lebzeiten warst – ein Schwein.“ Die Stimme lachte und entfernte sich.
In Bennos Kopf ging alles wild durcheinander. Filme der Vergangenheit liefen in ihm ab. Er sah seine Villa, seine Frau, die Kinder an einem Sommertag. Er sah sich beim Rasieren mit Schaum im Gesicht. Seine Mutter nickte ihm zu. Der Biergarten wurde in seinen Gedanken greifbar. Er wollte trinken. Wo war die Flasche? Er robbte in die andere Ecke, aber er war fahrig. Die Flasche glitt ihm aus der Hand und zersprang auf dem Boden. Überall Scherben. Vor Wut riss er an den Gittern und an sich und an dem Schlauch. Mit einem Ruck und einem dumpfen Schmerz glitt der Katheter aus seiner Blase. Nicht einmal schreien konnte er. Aber er konnte sich umbringen mit einer Scherbe. Er wollte nicht darauf warten, dass der Fremde wiederkam. Mit Überwindung senkte er die Scherbe ins Fleisch. Diese war nicht scharf genug. Er kam nicht weiter. Die Haut blutete nur oberflächlich. Diese hier war spitzer. Er musste zustechen und den Schmerz aushalten.
Beim ersten Versuch blieb das Glasstück stecken. Er jaulte innerlich. Zog es wieder heraus und hörte Schritte. Der Fremde kam zurück.
„Na, na, na, Benno, was machst du denn