„Sagen Sie“, fragte Kruse, als der Kellner wieder bei ihnen am Tisch stand, „haben Sie gestern Benno Kuhlmann hier gesehen? Und setzen Sie sich doch bitte.“
Der junge Mann nahm zwischen Wolf und Peter Platz.
Endlich geschah hier mal etwas Aufregendes.
„Ja, der war wie jeden Montag mit seinem Stammtisch hier.“
„Und ist Ihnen etwas Besonderes an diesem Abend aufgefallen? War einer seiner Freunde komisch oder verändert? Hat es Streit gegeben? Sind alle gleichzeitig gegangen?“
„Halt, halt, das sind ganz schön viele Fragen auf einmal!“
„Ok, fangen wir mit der ersten an. Ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen?“
„Eigentlich nicht. Bis auf diesen einen älteren Stammtischbruder waren auch gestern alle da. Sie haben wie immer viel gequatscht – meist über Politik oder Weiber – und viel getrunken.“
„War bei den Gesprächen irgendetwas nicht so wie sonst?“
„Nein, ich glaube nicht. Es ist auch nicht heftig gestritten worden. Klar, bei diesen Diskussionen geht es immer ein bisschen heiß her, aber so einen richtigen Streit gab es nicht. Die ersten sind auch schon so gegen halb zehn nach Hause gegangen.“
„Und Kuhlmann? Wann hat der das Lokal verlassen?“
„Das muss so gegen halb elf gewesen sein.“
„Hm, knapp eine Stunde später ... Was hat er denn so lange gemacht?“
„Der letzte vom Stammtisch ist so kurz vor zehn gegangen und dann hat sich Herr Kuhlmann noch zu einem Herrn gesetzt, der dort hinten am Tisch saß.“ Er zeigte in die hintere Ecke des Gastraumes.
„Kannten Sie den Mann?“
„Nein, den habe ich hier noch nie gesehen.“
„Haben Sie ihn woanders schon mal irgendwo gesehen?“
„Nein, noch nie!“
„Wissen Sie, ob Benno Kuhlmann das Lokal später gegen halb elf allein verlassen hat oder ist er in Begleitung des Fremden weggegangen?“
„Wenn ich es richtig gesehen habe, waren beide plötzlich weg. Kuhlmann hatte mir schon vorher gesagt, dass der Verzehr und die Getränke des Mannes mit auf seine Rechnung geschrieben werden sollten. Ich war dann aber zwischendurch in der Küche. Als ich wiederkam, waren beide weg. Es kann gut sein, dass sie zusammen gegangen sind. Sie haben sich die ganze Zeit sehr angeregt unterhalten. Herr Kuhlmann schien völlig fasziniert zu sein.“
„Hat irgendjemand anders hier gesehen, ob beide zusammen gegangen sind?“
„Nein, ich war um diese Zeit allein im Schankraum. Die beiden waren die letzten Gäste. In der Woche ist um diese Uhrzeit meist nicht mehr so viel los, besonders montags.“
„Können Sie beschreiben, wie der Mann aussah?“
„Er war nicht besonders auffällig. Mittelgroß, dunkelblondes Haar, gepflegte, aber keine besonders teure Kleidung, für sein Alter ein bisschen zu bieder vielleicht. Die Augenfarbe konnte ich bei dem Licht hier nicht genau erkennen. Ach, eine Besonderheit ist mir noch aufgefallen. Er hat nach einem fleischlosen Gericht gefragt. Das muss natürlich nicht unbedingt heißen, dass er Vegetarier ist.“
„Das ist doch schon mal ein Anfang. Vielen Dank, dass Sie uns so detaillierte Auskünfte geben konnten. Das hilft uns bestimmt weiter.“
„Gern geschehen, ah, da klingelt die Küche, Ihr Essen ist fertig.“
Zander und Flammkuchen konnten sogar vor Wolf Hetzers kritischem Gourmetblick bestehen. Das Fischgericht sei ein Gedicht gewesen, erklärte er Peter, als er sich dezent mit der Serviette den Mund abtupfte.
„Der Flammkuchen war auch lecker, nur ein bisschen klein für einen wie mich“, grinste er.
„Es ist übrigens schade, dass der fremde Gast nicht mit Karte bezahlt hat. Dann hätten wir ihn.“
Peter lachte.
„Das wäre ja wohl zu einfach. Wie in einem schlechten Krimi. Wir werden schon unsere grauen Zellen noch ein bisschen fordern müssen.“
Auf der Dienststelle erwartete Hauptkommissar Mensching umgehend Bericht, damit er mit der Staatsanwältin Frau Dr. Kukla Kontakt aufnehmen konnte, um sie über den Stand der Ermittlungen zu informieren.
„Das ist ja noch äußerst mager, meine Herren, was Sie mir hier präsentieren. Mehr haben Sie noch nicht? Ein paar Befragungen im Umfeld des Pfarrers ohne Erfolg, außer, dass Sie jetzt wissen, dass es Josef Fraas ist und ein bisschen Palaver im ,Stadtkater’. Ich erwarte, dass Sie sich umgehend verstärkt um das Verschwinden von Benno Kuhlmann kümmern. Das hat höchste Priorität!“
„Verzeihen Sie, aber wir haben auch einen Mord aufzuklären! Benno Kuhlmann ist vielleicht bei einer seiner Geliebten ...“
„Habe ich mich undeutlich ausgedrückt? Ich wünsche, dass Sie den Fall Kuhlmann vordringlich behandeln. Das heißt nicht, dass Sie den Mordfall vergessen sollen. Und nun los, meine Herren. Sie haben genug zu tun.“
Hetzer und Kruse verabschiedeten sich knapp und verdrehten vor der Tür die Augen. Das war ja mal wieder klar. Die Seilschaften funktionierten immer. Der kleine Mann schien dagegen machtlos – aber nicht grundsätzlich ...
„Also: Vordergründig werden wir Menschings Anweisung befolgen, aber der Mord an Fraas hat für uns weiterhin Vorrang in den Ermittlungen.“
„Das sehe ich genauso“, knurrte Peter und machte ein verdrießliches Gesicht. „Und ich lasse mir überhaupt ungern in meine Arbeitsmethoden reinreden. Ich bin schließlich nicht erst seit gestern im Dienst.“
„Gut, dann sind wir uns ja einig. Also auf nach Hameln, zu Pfarrers Haushälterin. Und danach besuchen wir noch mal Bennos Frau. Mal sehen, ob sie eine Ahnung hat, wer der Fremde sein könnte.“
„Ziemlich vage Beschreibung, trotz allem. Das könnte auf viele zutreffen. Ich meine, er hat gut beobachtet, aber die Gestalt ist so nichtssagend.“
„Das ist vielleicht Absicht. Wenn es sich doch um ein Verbrechen handelt, will er nicht auffallen. Ich denke, es hat auch wenig Sinn, ein Phantombild zeichnen zu lassen. Wir sollten auf jeden Fall noch ein paar Tage damit warten. Es könnte doch sein, dass Kuhlmann plötzlich geläutert und verschämt wieder auftaucht und unter Muttis Rock kriecht.“
„Meinst du, sie würde ihn wieder aufnehmen, wenn er so lange bei seiner Liebsten war?“
„Bestimmt, du glaubst gar nicht, welche Anziehungskraft Macht und Geld haben. Stell dir vor, sie ließe sich scheiden. Neben der Schmach und dem Schmerz hätte sie einen enormen Verlust an Ansehen und Stellung hier in der Stadt. Nein, ich denke, es würde alles fein unter den Teppich des Vergessens gekehrt und das Leben liefe normal weiter. Was man in diesen Kreisen eben als normal empfindet.“
„Wahrscheinlich hast du recht, aber mir wird bei dem Gedanken schlecht.“
Kurz vor drei kamen sie in der Fontanestraße an. Sie beschlossen zu warten, bis die Mittagszeit vorbei war. Gegen 15:10 Uhr schlenderten sie Richtung Haustür und klingelten bei Heide Brüderl. Sie bewohnte die Räume oberhalb der ehemaligen Pfarrwohnung.
„Ja Jesses, kommens doch rein, meine Herrn. Darf ich Ihnen etwas anbieten. An Kaffee vielleicht und a paar Platzerl.“
„Ja, sehr gerne“, nickte Peter, der schon wieder ein Loch im Magen verspürte.
„Einen Moment bittschön, ich bin gleich wieder bei Ihnen.“
„Leicht bayrischer Einschlag, oder?“, fragte Hetzer mit einem Schmunzeln in der Stimme. Die Namen Fraas und Brüderl kommen mir auch nicht so eindeutig norddeutsch vor.“
„So,