SchattenHaut & SchattenWolf. Nané Lénard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nané Lénard
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783827198884
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wissen jetzt, wer der Mann ist, der heute Morgen in Rinteln angeschwemmt worden ist. Es handelt sich um den 72-jährigen ehemaligen Pfarrer der St. Elisabeth Gemeinde. Josef Fraas heißt, äh, hieß er. Pfarrer Braun ist sein Nachfolger. Er soll ihn identifizieren.“

      „Ah, na, dann kommt mal mit, ihr drei. Er liegt auf Nummer fünf, bestens restauriert – bis auf die kleine Schwachstelle natürlich.“

      Pfarrer Braun hob die Brauen.

      „Was für eine Schwachstelle meinen Sie?“

      „Das kann ich aus ermittlungstechnischen Gründen leider nicht sagen. Aber ich würde gerne mit Hauptkommissar Hetzer gleich noch ein paar Worte unter vier Augen wechseln, wenn Sie nichts dagegen haben.“

      Mica öffnete die Edelstahl-Tür, aus der es leicht dampfte. Dezent zog sie das weiße Laken gerade so weit vom Gesicht, dass dem Pfarrer der Anblick des Halsloches erspart blieb. Es klaffte leicht seitlich und sah unappetitlich aus. Braun hielt sich trotz allem bisher gut.

      Er kämpfte wie alle mit der chemikalienlastigen Luft und den Gerüchen des Todes, die hier und dort unweigerlich in die Nase stiegen. Wer das nicht gewohnt war, brauchte starke Nerven oder einen starken Magen – am besten beides.

      Pfarrer Braun nickte beim Anblick seines Vorgängers.

      Es war eindeutig Fraas, kein Zweifel. Und es drängte ihn zu gehen. Kruse machte Wolf ein Zeichen, nahm den Geistlichen am Arm und verließ den Obduktionssaal.

      „Du wolltest noch mit mir reden, Mica? Hast du noch etwas herausgefunden?“

      „Ich habe über etwas nachgedacht. Wieso hat ihn der Mörder nicht einfach nur kastriert? Wieso hat er noch zusätzlich den Adamsapfel entfernt? Es hätte doch gereicht, ihm die Stimmbänder zu durchtrennen, damit er nicht schrie.“

      „Adamsapfel? Du hattest doch Schildknorpel gesagt?“

      „Ach, wusstest du nicht, dass das dasselbe ist? Schildknorpel oder Cartilago thyroidea, im Volksmund auch Adamsapfel genannt.“

      „Und was wundert dich dann daran? Mich wundert nämlich jetzt nichts mehr. Er ist doch auch ein männliches Attribut, genau wie die Genitalien. Er sollte entmannt werden – in jeder Hinsicht. Nur warum?“

      „Ja, warum? Dafür habe ich auch keine Erklärung. Vielleicht eine verschmähte Liebe. Aber du hast recht, das könnte eine sinnvolle Erklärung sein. Manchmal muss man Dinge erst aussprechen, bevor sie einem richtig ins Bewusstsein dringen.“

      „Morgen werden wir die Haushälterin befragen. Sie ist momentan bei ihrer Schwester. Mal sehen, ob sie mehr weiß oder eine Idee hat. Als Tatverdächtige fällt sie aus. Sie ist schon seit Samstag verreist.“

      „Selbst wenn sie in den Pfarrer verliebt war oder mit ihm eine Beziehung hatte, dann wird sie doch nicht so lange gewartet haben, um ihn jetzt noch umzubringen. Sie fällt sowieso aus, weil sie den schweren Körper unmöglich von der Kastrationsstelle ins Wasser gezogen haben kann. Und von selbst gegangen ist er bestimmt nicht. Du kannst davon ausgehen, dass er bewusstlos war. Der Schmerz, der Blutverlust – keine Chance.“

      „Sei’s, wie es ist. Wir wissen noch zu wenig. Aber jetzt fahre ich erst mal nach Hause. Morgen früh geht es weiter.“

      „Dann gute Nacht, Herr Isegrim, Grünkäppchen muss noch aufräumen.“

      „Du bist plemplem, ehrwürdige Mechthildis, die Leichen haben dich wuschig gemacht. Beschäftige dich mal mehr mit den Lebenden.“

      Hetzer schmunzelte über die schrullige Pathologin und dachte, dass sie mindestens so gaga war wie seine Lady zu Hause.

      Jetzt noch schnell nach Rinteln zur Dienststelle, dachte er, den Wagen tauschen und dann nach Hause in sein Paradies am Hang.

      „Hör mal“, sagte Peter zum Abschied, „ist dein Hund eigentlich sonst den ganzen Tag allein?“

      „Nee, eine Nachbarin geht zweimal am Tag mit Gaga, außerdem sind die Katerbrüder da, die mit ihr kuscheln.“

      „Ich wollte nur sagen, ich hätte nichts dagegen, wenn wir sie gelegentlich mitnehmen.“

      „Du bist ein feiner Kerl, dass du an so was denkst. Ich bin froh, dass wir jetzt zusammenarbeiten. Also, dann bis morgen. Mal sehen, was der Tag bringt.“

       Abendgedanken

      Hetzer schwang sich in seinen Ford. Er war doch noch gut in Schuss. Was sind schon acht Jahre. Hetzer gehörte nicht zu den Menschen, die spätestens alle zwei Jahre ein neues Auto brauchten. Für ihn war es einfach ein Transportmittel, mit dem man trocken von A nach B kam. Solange keine Macken auftraten, gab es keinen Grund für eine Veränderung. Veränderungen waren überhaupt nichts für ihn, dachte er und fragte sich, seit wann er das so massiv empfand.

      Vielleicht seitdem es sie nicht mehr gab. Da musste wenigstens alles andere möglichst so bleiben wie es war, damit er Halt fand.

      Nachdenklich fuhr er den Kirschenweg hinauf und parkte auf seinem Hof. Emil kam ihm schon flügelschlagend entgegen. Als Hetzer ihm den langen Hals kraulte, dachte er, dass es besser wäre, spätestens im Frühjahr einen Artgenossen anzuschaffen. Es war nicht gut, so allein zu sein. Für Emil. Im Sommer war es einfacher, da war Hetzer viel draußen. Und Emil in seiner Nähe. Gaga war inzwischen auch schon am Gartentor und wedelte. Sie hatten eigentlich nichts auszustehen, denn es gab Moni. Moni Kahlert war seine Nachbarin. Anfang 60, sehr sportlich und tiervernarrt. Ihr ultrakurzer Haarschnitt ließ die zierliche Frau zehn Jahre jünger aussehen. Moni war die Einzige, die ohne Furcht Stall, Hof und Haus betreten konnte. Die Tiere liebten sie. Manchmal hatte er den Eindruck, dass sie auch heimlich Staub wischte, doch er stellte ihr diese Frage nie. Im dämmernden Tageslicht kam es ihm heute so vor, als ob er besser durch die Fensterscheiben sehen konnte. Doch auch das würde ein offenes Geheimnis zwischen den beiden bleiben. Es war gut, dass es Menschen wie Moni gab. Hetzer wusste das zu schätzen und lud sie ab und zu zum Essen ein.

      Als er vor dem Kaminofen kniete und die Asche entfernte, strichen die Katerbrüder um seine Beine. Das war das allabendliche Ritual. Sie wussten genau, dass es gleich warm werden würde und machten es sich auf dem Biedermeiersofa bequem.

      Hetzer wartete, bis er sicher sein konnte, dass das Feuer nicht wieder ausgehen würde und ging in die Küche. Die Kartoffeln waren schnell geschält, halbiert, mit Öl und Rosmarin bestrichen und nach dem Salzen in den Ofen geschoben. Zwei Scheiben Rinderbraten in einer Rotweinsoße mit Gemüsebindung waren noch vom Sonntag übrig geblieben. Jetzt konnte er sich genüsslich ein Stündchen vor den Kamin legen, bis die Rosmarinkartoffeln fertig waren.

      Emil war schon gefüttert und im Stall, Gaga lag ihm zu Füßen und die Kater schmiegten sich an seine Beine. Das waren fast Abende wie früher. Als sie noch da war. Aber daran wollte er nicht denken, oder doch? Er hatte dazugelernt. Am Anfang hatte er die Leere verdrängt, war viel unterwegs gewesen. Hatte Freunde getroffen oder eingeladen. Nur nicht allein sein mit sich. Mit sich und dem Schmerz. Der Schmerz, dieser unerträgliche, der nicht vorbeiging. Für den es keine Heilung gab.

      In den Monaten, in denen er vom Dienst freigestellt gewesen war, musste er irgendwann begreifen, dass er sich ihm stellen musste, dass er ihn annehmen musste. Es machte keinen Sinn, die Orte zu meiden, an denen er mit ihr glücklich gewesen war. Was nützte es, das Schicksal zu verfluchen. Sie war fort und er musste weiterleben. Ohne sie und doch mit ihr. Mit den Erinnerungen an sie. Mit dem wohligen Gefühl, mit der Liebe, die er fühlte. Manchmal sprach er mit ihr und ahnte, was sie geantwortet hätte. Er war immer noch verbunden mit ihr. Mit niemandem würde er jemals wieder so eins sein. Bei diesen Gedanken und dem beruhigenden Schnurren der Katerbrüder schlief er ein, bis ihn der Backofen mit lautem Piepen weckte. Mühsam stand er auf, reckte sich und ließ das Fleisch auf dem Herd kurz in der Soße warm werden. In diesen Minuten deckte er rasch den Tisch, entkorkte eine Flasche Rotwein und nahm die Rosmarinkartoffeln aus dem Ofen. Hetzers Essbereich war eine wundersame Mischung aus alten Stühlen und einer Bank, die er in Nienstädt zusammengesucht hatte. Etwas aufgearbeitet, neu gepolstert