Obwohl er die Schule praktisch als Analphabet hinter sich gebracht hatte, verdiente Stevo, dessen bürgerlicher Name Steve Pearce lautet, in einem Arbeitsbeschaffungsprogramm in seinem letzten Schuljahr genug Geld, um mit sechzehn Jahren eine mobile Disco zu pachten. Damit veranstaltete er ab 1979 jeweils am Montagabend im Chelsea Drugstore in der Londoner Kings Road seine „Electronic Music Disco“. Außerdem legte er einmal pro Woche im Clarendon in Hammersmith auf. „In Chelsea habe ich den Tanzboden terrorisiert“, erinnert sich Stevo lachend, „weil ich dort richtige Außenseitermusik spielte, Sachen wie Chrome und Throbbing Gristle neben Kraftwerk und Yellow Magic Orchestra. Danach ging man ins Ritz, wo sie Roxy Music und Bowie spielten und alle schwul waren und jede Menge Make-up trugen. Aus dieser Szene gingen die New Romantics hervor. Auf musikalischem Gebiet war ich damals Anarchist und wollte alle Abgrenzungen und Stilvorschriften beseitigen. Als dann plötzlich in den Zeitungen Reportagen und Fotos von Leuten mit idiotischen Frisuren erschienen, fand ich das sehr frustrierend.“
Weil seine Auswahl tanzbarer Platten auf starkes Interesse stieß, erhielt Stevo das Angebot, eine „Electronic Music Chart“ im Musikmagazin Record Mirror zusammenzustellen und später auch noch regelmäßig eine „Futurist Chart“ in Sounds. „Mir gefiel der Ausdruck ‚Futurist‘ nicht“, sagt Stevo. „Der stammte aus einem Leitartikel in Sounds. Dann wurde er auch noch mit Visage in Zusammenhang gebracht, was sich dann nur noch wie ein Witz anhörte. Die harte, aggressive elektronische Musik konnte sich dagegen einfach nicht durchsetzen.“
Die Bezeichnung „Futurist Chart“ bezog sich auf die futuristische Bewegung in der bildenden Kunst, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts aufkam. 1909 hatte der Italiener Filippo Tommaso Marinetti das erste „Futuristische Manifest“ veröffentlicht, das zur Beseitigung der alten Garde in der Kunst aufrief und die jüngere Generation zur Schaffung einer modernen Kunstrichtung aufforderte.
Obschon Stevo dem plakativen Begriff „futuristisch“ misstrauisch gegenüberstand, versuchte er ihn neu zu definieren, indem er seine Charts mit den Demo-Tapes bestückte, die ihm aufstrebende Bands zuschickten. „Ich bekam eine Menge gutes Material und erwog, daraus eine Compilation zu machen, bei der ich auch Depeche Mode dabeihaben wollte“, berichtet Stevo.
Depeche Mode fühlten sich zwar geschmeichelt von Stevos Angebot, auf einer „Futuristen-Compilation“ dabei zu sein, hatten aber dennoch Bedenken und zögerten. Lieber wollte man das Demo-Tape den verschiedenen Plattenfirmen anbieten, doch leider lehnten es alle ab. „Keine Plattenfirma wollte das Tape haben“, sagte Fletcher 1981. „Stiff Records schickten uns sogar einen richtig sarkastischen Brief, so etwa: ‚Hallo, ihr aufkeimenden Superstars …‘“
Und Dave Gahan erinnert sich: „Vince und ich besuchten an die zwölf Firmen am Tag. Das Independent-Label Rough Trade war unsere allerletzte Hoffnung. Die haben doch sowieso schon ein paar ziemlich schlimme Bands unter Vertrag, dachten wir – aber selbst die lehnten uns ab. Sie wippten zwar mit den Füßen, als sie das Tape hörten, und wir glaubten schon, wir hätten’s geschafft – aber dann sagten sie: ‚Das ist zwar schon ganz toll, aber es ist einfach nicht Rough Trade.‘“
An jenem Tag hielt sich im Büro von Rough Trade ein neunundzwanzigjähriger unabhängiger Labelchef auf, der als Musiker und Unternehmer schon an vorderster Front der Electronic Music gestanden hatte. Daniel Miller hatte schon Synthesizermusik gehört, als er an der Kunstschule von Guildford von 1968 bis 1971 an einem Film- und Fernsehkurs teilnahm. „Ich war schon immer ein großer Musikfan gewesen, und ich wuchs in den Sechzigern auf, einer großartigen Zeit für Rock- und Popmusik. Zwischen 1964 und 1968 hatte es eine Explosion der verschiedensten Stilrichtungen gegeben, aber gegen Ende der Sechzigerjahre, als ich mein Studium am College anfing, hatte ich genug vom Rock. Es schien keinerlei Experimente mehr zu geben, und so wurden Free Jazz und Electronic Music die beiden einzigen Musikrichtungen, die mich noch interessierten. Ich entdeckte deutsche Bands wie Can, Faust, Amon Düül und, ein wenig später, Neu! und Kraftwerk. Was die machten, fand ich unglaublich originell und aufregend. Sie schufen neue Klänge, die ich wirklich hören wollte. Damals sah ich auf Brian Eno, Roxy Music und David Bowie ein wenig hinab, denn ich war begeistert von Neu! und Kraftwerk, und ich fand, dass die britischen Bands all diese neuen Ideen zu nichts anderem benutzt hatten, als sie in Pop umzusetzen. Und ich hasste die britischen Progressive-Rock-Bands wie Emerson, Lake & Palmer, weil ich mich nun mal für die deutsche elektronische Musik begeisterte.“
Nachdem er sich in der Schweiz als Disco-DJ betätigt hatte – „Damals war ich im Grunde vor allem ein Skiabhängiger“ –, kehrte er zurück nach England, als Punk seinen Zenit erreicht hatte. „Punk reizte mich sehr wegen der Energie und der Aufregung, die damit zusammenhing. Ich war nie der Meinung, dass Musikmachen bedeutet, unglaublich tolle Soli zu spielen und riesige Mengen Gerätschaften mit sich zu führen, und so fand ich diese Do-it-yourself-Attitüde des Punk großartig.“
Diese Haltung schwappte auch in die neu entstehende Electronic-Szene über. „Synthesizer waren so billig geworden, dass man sie sich leisten konnte“, erklärt Miller, „und durch Punk war es zu einer kreativen Explosion gekommen, sodass es jetzt englische Bands wie Cabaret Voltaire und Throbbing Gristle gab, die wirklich interessante elektronische Musik machten. All diese Umstände bewogen mich, nun auch etwas für mich zu tun – und wenn auch nur zum Spaß. Ehe ich in die Schweiz ging, hatte ich schon beim Film gearbeitet. Also verdingte ich mich nach meiner Rückkehr wieder beim Film, um ein bisschen Geld zu verdienen. Ich hatte die verrücktesten Arbeitszeiten, aber ich konnte mir dann einen billigen Synthesizer und eine Vierspurbandmaschine leisten.“
Miller gründete seine eigene One-Man-Band, The Normal, und nahm zwei Songs auf, „T.V.O.D.“ und „Warm Leatherette“, inspiriert von J. G. Ballards Roman Crash und später von Grace Jones interpretiert. „Ich glaube, ich nannte das Projekt The Normal, weil ich jegliches Geheimnis darum vermeiden und den Namen ganz simpel klingen lassen wollte“, sagt Miller, der sich nur sehr selten interviewen lässt. Sein rätselhaftes Projekt rundete er ab, indem er noch ein eigenes Label für seine Musik gründete: Mute Records.
Der unauffällige Musiker hatte kein Interesse, mit seinem Material an eine der großen Plattenfirmen heranzutreten. „In den Musikzeitschriften gab es viele Artikel darüber, wie man seine eigene Single aufnehmen konnte“, entsinnt er sich. „Es war ganz einfach und nicht allzu teuer, ein paar Testpressungen zu machen, also tat ich das.“ Der selbst ernannte Labelchef hatte indes keine Ahnung von Vertrieb und Verkauf und landete deshalb eines Tages im Rough-Trade-Laden in der Londoner Portobello Street. Ursprünglich war dieser Laden eine wichtige Verkaufsstelle für Punk- und Indie-Platten gewesen, aber seit 1978 hatte sich Rough Trade zu einem Plattenlabel und Vertriebsnetz erweitert, das die Karrieren von Künstlern wie Cabaret Voltaire, The Fall und Augustus Pablo förderte.
Daniel Miller spazierte also in diesen Laden und sagte, er habe eine Testpressung seiner Single und ob man daran interessiert sei, wenn er noch mehr Kopien davon machen lasse. „Ich traf den Boss von Rough Trade, Geoff Travis, und wir gingen ins Hinterzimmer. Dann spielten sie ‚Warm Leatherette‘, und ich dachte ‚Ogottogott!‘, denn bis zu diesem Moment hatte ich noch nie jemandem meine Musik vorgespielt. Aber die Rough-Trade-Leute waren sehr angetan von dem, was sie hörten, und wollten mich bei der Pressung von zweitausend Kopien unterstützen, wenn ich ihnen den Vertrieb überließe. Und so machten wir es dann auch. Die Single kam im Mai 1978 heraus, bekam einige gute Kritiken und war schon sehr bald ausverkauft.“
Der scheue, zurückhaltende Miller sagt, er sei „bestürzt“ gewesen über den Beifall der Kritik für sein Erstlingswerk, und er beschloss, seine Möglichkeiten weiter auszuloten: „Mit der Zeit lernte ich die Leute bei Rough Trade richtig gut kennen. Ich hielt mich oft im Laden auf und half ihnen aus. Dann bekam ich das Angebot, live aufzutreten und zu spielen, und dachte mir gleich: ‚Das schaffst du niemals allein.‘ Ich hatte kurz zuvor Robert Rental kennengelernt, der ebenfalls Synthie-Musik in seinem Schlafzimmer