Bestenfalls ist das Paar irgendwann wieder so weit, von der indirekten zur direkten Ansprache zu wechseln. Da du weiterhin die Erlaubnis hast, zu unterbrechen und zu regulieren, nutze es. »Stopp! Ich unterbreche an der Stelle Ihren Vorwurf und mache einen anderen Vorschlag. Meinen Sie mit dem, was Sie sagen, dass es Ihr Wunsch wäre, dass …« Wann immer es passt, führe unaufgeregt eine andere, konstruktive Sprache ein. Immer und immer wieder.
3–8 Paartherapie
In diesem Skalen-Bereich verfügen die Paare meistens über ein gutes Fundament. Obwohl sie in zu vielen Konflikten, unguten Kompromissen und Vorwürfen verstrickt sind, gibt es oft den gemeinsamen Auftrag: Es soll besser werden! In diesem Bereich können Therapeuten gut bei den Paaren andocken. Viele Vorschläge, Interventionen und Übungsaufgaben des Therapeuten werden als Unterstützung erlebt und angenommen. Hier geht es darum, den Blick für die eigene Verantwortung zu schärfen. Eigene Anteile an der Eskalation wahrzunehmen und zu verändern. Weg von: Du bist schuld, dass ich unglücklich bin (Vorwurf)! Hin zu: Ich bin für die Erfüllung meiner Bedürfnisse selbst verantwortlich (Selbstverantwortung).
8–10 Moderation
Diese Paare brauchen manchmal nur pragmatische Unterstützung, Zeit und Raum, um ins Reden zu kommen, oder gezielte Klärungshilfe. Hier agieren die Paartherapeuten in der Regel eher als Moderatoren. Die Trennschärfe der Bereiche ist nur im Bereich der hochstrittigen Paare zu den Paaren, die es noch schaffen, einander zuzuhören und aufeinander einzugehen, gegeben. Im oberen Skalenbereich verwischen die Grenzen zunehmend und auch die verschiedenen Rollen (Therapeut, Beraterin, Coach) verschwimmen.
Toni: Bleiben wir noch kurz bei den hochstrittigen Paaren. Wenn mir das zu viel wird, darf ich ablehnen?
Unbedingt! Alles, was nicht in deinen Kompetenzbereich fällt, darf abgelehnt werden. Es gibt Beratungsstellen, die sich auf das Thema Hochstrittigkeit spezialisiert haben, und es gibt viele gut ausgebildete Mediatoren, die die verschiedenen Ebenen, die bewusste, unbewusste und die moralische Ebene, in ihren Mediationen berücksichtigen.
Mediatoren, die nur auf der bewussten Ebene arbeiten, erreichen leider nicht viel. Das wäre so, als würde man einem übergewichtigen Sportmuffel eine Schulung über aktive Bewegung und gesundes Leben geben. Im Kopf ist ihm alles klar. Doch er kann nicht. Weder sich bewegen noch gesünder ernähren. Tief innen gibt es einen kräftigen Boykottierer. Einen Verweigerer, der zunächst, vor allen anderen Maßnahmen, gehört werden muss.
So ähnlich ist es auch bei hochstrittigen Eltern oder Paaren. Beide agieren aus einem tiefsitzenden Mangel heraus, der Angst, alles zu verlieren, der Angst, dass alle Menschen »da draußen« zum anderen halten werden. Die Gefühle von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Ungerechtigkeit manifestieren sich in Wut und Aggression. Das zu fühlen ist tausend Mal besser, als (wieder) ein Opfer und hilflos zu sein.
Nur auf der moralischen Ebene zu bleiben, nützt leider auch nichts. Mit Sätzen wie: »Sie wollen doch auch, dass es Ihrem Kind gut geht«, können beide gerade nichts anfangen, weil es beiden schlecht geht. Bildlich haben wir zwei Schwerverletzte vor uns liegen, die die Aufgabe haben, sich erst mal um ihr Kind zu kümmern. Das funktioniert nicht.
Es geht um tiefliegende Emotionen, schlimmste Schmerzen, reaktivierte Kindheitserinnerungen und Zukunftsangst auf beiden Seiten. Es geht um einen großen Mangel, Enttäuschung und Hass. Das ehemals verletzte und vernachlässigte Kind ist zu einem inneren verletzten, vernachlässigten Kind geworden und klopft lautstark an. Will endlich Gerechtigkeit, gesehen und gehört werden.
Beide sollten mit therapeutischer Hilfe so weit wie möglich aus der Angst geführt werden, um erwachsene Entscheidungen treffen zu können. Sie brauchen Unterstützung, die verschiedenen Ebenen voneinander zu trennen. Die Elternebene von der Paarebene, die Kindheitsereignisse von den aktuellen Ereignissen, sodass beide wieder in die Verantwortung für sich selbst und die gemeinsamen Kinder kommen.
Das Vernünftige, das Moralische kommt erst, wenn das Unvernünftige, Irrationale seinen Platz gefunden hat. Beide sehnen sich zutiefst danach, verstanden zu werden.
Und das Kindeswohl, falls es Kinder gibt?
Die Versorgung und Unversehrtheit der Kinder müssen gesichert sein. Bei hochstrittigen Eltern ist das zuständige Jugendamt in der Regel bereits schon länger eingeschaltet und mehrere Erwachsene haben hoffentlich ein Auge auf die Kinder. Erzieher, Lehrerinnen, Pädagogen aus dem Freizeitbereich.
Alles klar so weit. Bleiben wir bei den therapiewilligen Paaren aus dem oberen Skalenbereich.
4Was hilft, um mich nicht auf eine Seite ziehen zu lassen?
Wenn deine einführenden Worte, die deine Rolle erklären sollen, und deine innere Haltung (»Es geht um euch, eure Liebe«) nicht ausreichen, deine Rolle zu verdeutlichen, visualisiere es.
Fallvignette
Herr A. ruft an und kaum, dass ich abgenommen habe, sprudelt er los: »Schön, dass ich Sie erreiche. XY hat Sie empfohlen. Meine Partnerin und ich möchten gerne einen Termin vereinbaren. Bei uns geht es um das Thema Sex.«
Selten fängt jemand so ein Gespräch an, aber gut. Sein Thema ist direkt auf dem Tisch. Beherzt folge ich meiner Mission, am Telefon nicht in die Themen einzusteigen. Immer, wenn er versucht, mir mehr zu erzählen, unterbreche ich freundlich und bestimmt. »Das besprechen wir gemeinsam mit Ihrer Partnerin. Glauben Sie mir, es ist besser, zusammen zu starten.« Irgendwann hat er ein Einsehen und wir verabreden einen ersten Termin. Wie immer erkläre ich auch, dass wir nach dem ersten Termin entscheiden, ob die Chemie passt, ob wir weiterhin zusammenarbeiten wollen oder auch, ob es nicht passt. Die Option, dass es auch nicht passen darf und dass das nur zu menschlich ist, soll von Anfang an den Druck und die Erwartungen auf allen Seiten herunterfahren.
Dann ist es so weit, der erste Termin von Herrn und Frau A. steht bevor. Der Stuhlkreis ist vorbereitet und bereits beim Öffnen der Tür spüre ich die skeptische, abwartende Haltung der Frau und die Überschwänglichkeit ihres Partners. Sie steht leicht hinter ihm und als sie mir die Hand reicht, fühle ich mich gescannt und notiere im Geiste, dass ich sie irgendwie ins Boot holen muss. Herr A. ist charmant, zuvorkommend und stolziert ein bisschen vor uns, den beiden Frauen, im Raum herum. Schiebt uns die Stühle zurecht, fragt, ob wir etwas trinken möchten. Hilft ihr aus dem Mantel. Hält mir die Tür auf. Wir sind alle drei im gleichen Alter, um die fünfzig. Pass auf, warnt mich eine innere Stimme. Der Mann flirtet und macht in Nullkommanichts aus uns Dreien ein »Ihr, ihr zwei Frauen, und ich, der Mann im Raum«.
Frau A. setzt sich, verschränkt die Arme vor der Brust und wartet ab, was passiert. Als beide sitzen, eröffnet Herr A. nonchalant das Gespräch, als wären wir in einer Bar oder in seinem Wohnzimmer. Seine Gestik ist weit ausholend, Raum einnehmend. »Wie ich Ihnen schon am Telefon sagte, geht es bei uns um Sex. Alles andere ist super.« Ihr Mund zuckt, doch sie sagt kein Wort.
Meine Gedanken sprudeln durcheinander: Herr A. hat das Zepter in der Hand, er führt und ich sollte ihn schleunigst davon befreien. Es gibt kein Wir – wir Frauen. Es gibt nur mich und das Wir gehört zu ihm und seiner Partnerin. Doch dieses Mal komme ich nicht zum Zuge. Normalerweise frage ich, ob sie Paarberatung kennen, und beglückwünsche sie zu ihrer Entscheidung und zu ihrem Mut, sich Hilfe zu holen. Doch heute läuft alles anders.
»Moment«, unterbreche ich blitzschnell, schiebe meinen Stuhl zurück, stehe sogar auf, um zu verdeutlichen, dass ich jetzt dran bin und das Zepter übernehme. Als Allererstes werde ich meine Rolle im Raum klarmachen, krame nach einem langen Seil und erkläre mich dabei. Lasse ihm keine Lücke, dazwischenzufunken.
»Bevor